Es liegen 902 Tage zwischen Bono und Sven Regener. Es sind 902 Tage, die eine Distanz markieren für das, was man digitalen Wandel nennt.
Am 21. März 2012 sagte Sven Regener, Sänger der Band Element of Crime im Zündfunk u.a. das hier:
„Dass man uns in Gesicht pinkelt und sagt: Euer Kram ist eigentlich nichts wert, wir wollen das umsonst haben. Die Gesellschaft, die so mit ihren Künstler umgeht, ist nichts wert. Das einzig wahre am Rock’n’Roll ist, dass wir jede Mark, die wir dafür bekommen, selber verdienen. Die bekommen wir von Leuten, die sagen, ja das ist es mir Wert. Das ist die Idee dabei, das macht den Rock’n’Roll groß, alles andere ist Subventionstheater, alles andere ist Straßenmusik. (…) Ein Geschäftsmodell, das darauf beruht, dass diejenigen, die den Inhalt liefern, nichts bekommen, das ist kein Geschäftsmodell, das ist scheiße.“
Am 9.9. 2014 setzte Bono, Sänger der Band U2, ein Geschäftsmodell in die Tat um, das 902 Tage zuvor den Rock’n’Roll-Test vermutlich nicht bestanden hätte: Bono verschenkte das jüngste Album seiner Gruppe namens „Songs of Innocence“ an alle Nutzer der Software iTunes*; ungefragt. Im Rahmen der großen PR-Veranstaltung von Apple, an deren Ende er auf die Bühne trat und seine Musik wie ein Straßenmusiker verschenkte, sagte er:
„The question is now, how do we get it to as many people as possible, because that’s what our band is all about.“
Regener (Jahrgang 1961) und Bono (Jahrgang 1960) trennt inhaltlich vielleicht weniger als die 902 Tage, die zwischen beiden Zitaten liegen. In dieser Zeit ist aber Realität geworden, was schon länger im Raum steht: ein veränderter Umgang mit Inhalt im digitalen Raum. Der Guardian-Redakteur Charles Arthur hat das in einem Tweet sehr schön auf den Punkt gebracht
2004 music industry: "stop taking music for free!"
Internet: "haha!"
2014 music industry: "have this music for free!"
Internet: "nooo!"
— Charles Arthur (@charlesarthur) 13. September 2014
Ist also eingetreten, was Regener angekündigt hat: Sind Künstler nichts mehr wert? Wenn man sich durchliest, wie iTunes-Nutzer auf das „Geschenk“ reagierten („Ich habe nicht mal genug Speicherplatz für ein Foto, wie kommt Apple darauf, dass ich das U2-Album brauche?“), könnte dies den Eindruck bestätigen.
Minirant von @dvg über das verschenkte U2-Album in iTunes. pic.twitter.com/25FDuw7C6T
— Mirko Lux (@Mirko_Lux) 12. September 2014
Doch der Eindruck täuscht. U2 verschenken ja nicht ohne Grund ihr neuestes Album. Was Regener Nichts-Wert-Sein nennt, kann man im Fall von Bono in Zahlen ausdrücken: Mit ihrer letzten Tour stellte die Band von Bono einen Rekord der Rolling Stones ein. Sie verkauften sieben Millionen Eintrittskarten für 110 Shows berichtet Spiegel Online:
Am Ende der „360 Grad“-Tour (…) wird sich das Einspielergebnis den Angaben zufolge auf rund 700 Millionen Dollar belaufen.
700 Millionen Dollar, das sind 540 Millionen Euro. Davon kann man sich 16 neue ICE-Züge kaufen, über 20 Kilometer neue Autobahn oder jede Menge Subventionstheater bauen. Ganz sicher kann man damit erklären, warum Bono die Bühne von Apple sehr gerne genutzt hat: U2 bekamen damit auf einem Schlag das, was Vorrausetzung für jeden Umsatz mit Inhalten ist: Aufmerksamkeit! Diese Aufmerksamkeit führte dazu, dass nach der Verschenk-Aktion andere U2-Songs plöztlich in den Verkaufs-Charts auftauchten und die Band im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand.
Klar, hört man von der anderen Seite der 902 Tage: Das ist ja auch U2!
Ich will da gar nicht viel zurückrufen, nur kurz innehalten: Wenn sogar U2, die Band, die den Tour-Rekord der Rolling Stones eingestellt hat, anfängt ihre Musik zu verschenken, sollte man vielleicht endlich beginnen, darüber nachzudenken, wie die Digitalisierung unseren Umgang mit Inhalten verändert – und zwar unter unseren Füßen. 902 Tage sind nämlich in Wahrheit nicht viel. Angela Merkel hat sich in dieser Zeit vermutlich weniger verändert als die Kulturbranche im Netz.
* Weil auf Twitter die Begrifflichkeit verschenken besprochen wird: Natürlich ist U2 für die Musik bezahlt worden, aber eben nicht vom Nutzer, der die Musik hört. Daher die etwas unsauber Verwendung des Begriffs.
UPDATE: Markus Beckedahl hat bei Netzpolitik einen erstaunlichen Unterschied in U2s eigener Perspektive auf ihre Musik ausgemacht:
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