No Nottime: Über das angenommene Ende der Mailingliste „nettime“

Am 1. April verschickten Felix Stalder und Ted Byfield eine erstaunliche Mitteilung an die Maillingliste „nettime“, sie kündigten (nach fast 20 Jahren) deren Ende an. Ein Aprilscherz mit erstaunlichen Folgen. Eine kleine Debatte über den Wert der unbedingt empfehlenswerten Liste wurde ausgelöst – auf der Liste. Und ich schickte Felix Stalder (mit dem ich persönlich bekannt bin) ein paar Fragen. Per Mail und zu der Mailingliste.

Ein Aprilscherz auf einer doch eigentlich sehr seriösen Mailingliste. Wer kommt auf so eine Idee? Und vor allem warum?

Vielleicht zuerst etwas Hintergrund. Nettime ist eine Mailingliste mit knapp 4500 TeilnehmerInnen, die sich mit Themen an der Schnittstelle Internet, Politik und Kultur beschäftigt. Es gibt sie nun schon seit 20 Jahren und sie hat einen Ruf erarbeitet, seriös, schwierig und anspruchsvoll zu sein. Das kann abschreckend wirken, im Guten wie im Schlechten.

Das wollten wir — Ted Byfield und ich, die beiden Moderatoren — etwas aufbrechen und auch eine der ungeschriebenen Regeln der Liste verletzen, nämlich dass auf der Liste nicht über die Liste gesprochen wird. Wir haben uns deshalb zu einem „Aprilscherz“ entschlossen, in dem wir alle bestehende Kritik an der Liste zusammengefasst und überzeichnet haben, um die Ankündigung glaubhaft erscheinen zu lassen, das Projekt zu beenden.

nettime

Was wollt Ihr erreichen?/Was soll sich ändern?

Wir wollten damit nicht einfach die Mitglieder in den April senden, sondern eine offene Frage stellen: Was wäre wenn? Uns war wichtig, dass wir keine Antwort vorgeben, sondern einen Moment der kollektiven Selbstrefexion auslösen.

Wir wissen nicht, was sich ändern soll. Vielleicht gar nichts, vielleicht motiviert diese Aktion andere, selbst aktiv zu werden, in dem sie Dinge in den gemeinsamen kommunikativen Raum tragen, von denen sie bisher dachten, dass sie dort nicht hin passen. Im Minimum wollten wir erreichen, dass sich alle bewusst werden, wie fragil ein solcher gemeinsamer Austausch, jenseits aller institutionellen Verankerungen und Verwertungsstrategien ist, und wie sehr er davon abhängt, dass sehr viele Leute etwas beitragen.

Dieses Bewusstsein einer kollektiven Leistung, die von allen erbracht wird, und eben nicht an professionelle Dienstleister delegiert wird, wurde wieder ins Bewusstsein gerufen. Das hat besser funktioniert als wir uns das hätten vorstellen können.


Warum eigentlich eine Mailingliste? Nie drüber nachgedacht, daraus eine Facebook-Gruppe oder was Vergleichbares zu machen?

Diese Ideen gab (und gibt) es immer wieder. Aber es wurde nie etwas daraus.

Zum einen ist es sehr schwierig, eine bestehende soziale Gemeinschaft auf eine neue Plattform zu stellen. Das Soziale und das Technische sind sehr tief ineinander verwoben, was Veränderungen schwierig macht, besonders von etwas, dass bereits 20 Jahre Geschichte akkumuliert hat. Das ist ja in Kontext des Internets schon fast ein Ewigkeit.

Zum anderen sind die Ideen, die der Architektur vieler sozialer Netzwerke zugrunde liegen, hochproblematisch. Diese bauen etwa auf einem extremen Individualismus und auf Konkurrenz um Aufmerksamkeit auf. Jeder sieht etwas anderes, niemand weiss, was andere wirklich sehen, und überall sind Rankings.

Eine Mailingliste schafft dagegen einen kollektiven Raum. Alle sehen das gleiche, alle haben die gleiche Reichweite, es gibt keine objektiven Rankings. Das schafft etwas gemeinsames, das über das „Ich und meine wechselnden Freunde“ hinausgeht. Wir machen keinerlei statistische Analyse. Das erschwert, dass interne Hierarchien entstehen und dass Leute versuchen, künstliche Kennzahlen zu optimieren.

Das heißt nicht, dass alles gut und friedlich ist, aber die Probleme die entstehen, sind die viel interessanteren als jene des kompetitiven Narzismus.

Dazu kommt, dass wir nicht von einem Provider abhängig werden wollen, über den wir keinen Einfluss haben. Wir wollen die Infrastuktur, die wir nutzen so weit wie möglich kontrollieren. Dabei verlassen uns lieber auf gegenseitige Hilfe als auf Gratisdienste, die mit persönlichen Daten zu bezahlen sind.

Unter dem Schlagwort „Dark Social“ erleben Newsletter gerade eine Art Revival. Trifft das auch auf nettime zu?

Ich denke schon. Wir — die Gesellschaft als Ganzes — sind immer noch daran, herauszufinden, wie das Verhältnis zwischen Systemarchitekturen und sozialen Dynamiken in der digitalen Gesellschaft genau beschaffen ist. Während es recht einfach ist zu sehen, wofür eine Plattform gut ist, ist es oft sehr schwierig zu sehen, wofür sie nicht gut ist. Weil, wie bewertet man Dinge, die nicht passieren? Das ist sehr subtil. Mit Facebook und andern sozialen Massenmedien sind wir über die erste Phase — die Begeisterung darüber was sie alles gut können – — hinaus. Nun beginnen wir langsam zu realisieren, wofür sie nicht geeignet sind. Das führt dazu, dass vielleicht auch ältere Technologien wieder neu beurteilt werden.

Zum Abschluss bitte träumen: Wie geht es weiter mit nettime?

Mein bescheidenster Traum wäre es, wenn die Diversität der Beitragenden der Liste steigen würde, sowohl was die geographische Verteilung als auch die inhaltlichen Schwerpunkte betrifft. Der ambitionierte Traum wäre es, dass die Erfahrung von nettime technologisches Design inspiriert, das mehr Wert auf Kollektivität und weniger auf reine Konnektivität legt. Wie das aussehen soll, kann ich aber auch nicht sagen. Mir geht in letzter Zeit ein Satz von Hannah Ahrendt nicht mehr aus dem Kopf: „Power arises, only where people act together, not where people grow stronger as individuals.“


Im Herbst erscheint von Felix Stadler „Kultur der Digitalität“ bei Suhrkamp. Auf die Nettime-Liste kann man sich hier eintragen.