In der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung singt der „Papier-Manic“ und Verleger Gerhard Steidl ein Loblied auf Print. Das Interview – neben einem Teller mit Apfelschnitzen geführt – ist schön zu lesen und gibt einen guten Einblick in den Medienwandel von Print zu Pixeln und in die Hoffnungen und Ängste, die damit verbunden sind.
An einer Stelle des Gesprächs beschreibt Steidl einen vermeintlichen Vorteil von Print. Er sagt …
Das Betrachten eines Bildes auf Papier ist etwas völlig anderes als das Betrachten am Bildschirm. Egal ob ich das iPad eines Freundes in Tokio benutze oder in Washington oder zu Hause mein eigenes, es ist immer die gleiche Wahrnehmung. Ob ich mir aber in Madrid eine Zeitung kaufe oder in London, das macht einen Unterschied.
… und legt damit – meiner Meinung nach – den Grundstein für etwas, was ich als Lob des Kontext beschreiben würde (allerdings aus einer genau gegenteiligen Interpretation des Wandels).
Ob er seine Zeitung in Madrid oder London kaufe, mache einen Unterschied, sagt Steidl und hält doch in England wie Italien eine identische Vervielfältigung in der Hand. Beide Zeitungen zeigen den gleichen Inhalt. Ein digitales Produkt – egal ob mehr geliebt oder gehasst – könnte in beiden Städten Kontexten tatsächlich unterschiedliche Produkte zeigen. Das muss man nicht mögen, man sollte es aber zur Kenntnis nehmen: Digitale Medien sind Kontext-Medien. Ein digitales Produkt kann einen Unterschied auf Konsumenten-Ebene machen – jeder Leserin in ihrem eigenen Nutzungskontext ein angepasstes Angebot liefern. Diese Betrachtung von Medien und Kultur geht über den Inhalt und dessen Duplikat hinaus und nimmt auch das Umfeld in den Blick, in dem dieser konsumiert wird. Unabhängig davon, ob man das mag oder nicht: Hier liegt das nachhaltige und grundlegende Veränderungspotenzial der Digitalisierung. Romane, die je nach Tageszeit und Leseort ihren Handlungsverlauf anpassen, sind nur die folgerichtige technische Entwicklung dessen, was Spotify mit seiner gerade angekündigten Jogging-Erweiterung ermöglicht. Dabei wird die Schrittfrequenz des joggenden Spotify-Nutzers mit Hilfe von Handy-Sensoren analysiert und mit einer Playlist kombiniert, deren Lieder einen Beat haben, der zur Lauf-Frequenz und zur Geschwindigkeit passt.
„In einer Welt der grenzenlosen Vielfalt ist der Kontext – nicht der Inhalt – König“, hat Rod Reid, der Gründer von Rhapsody, mal gesagt. Daran musste ich denken, als ich die Stelle mit den Zeitungen in Madrid und London las.
3 Kommentare
die (konstruierte) „kontextunabhängigkeit“ ist aber ein orientierungsmittel. das gilt für die inhaltliche identität, wie auch für „autoren“ („hast du den text von dvg in der sz gelesen?“). kontextabhängigkeit würde orientierung via medium erfordern („auf facebook“, „im sz stream“), genau dies leisten die digitalen medien nicht/kaum.
Digitale Medien halte ich ebenfalls für Kontextmedien. Das sieht man bereits bei den Anzeigen. Nahezu alle mir bekannten Publikationen im Netz arbeiten mit Ad-Server-Lösungen, die in irgendeiner Weise einen Kontext zwischen LeserInnen und Werbung herstellen. Stichworte sind für mich: Retargeting und contentsensitive Werbung.
Insofern ist es nur wahrscheinlich, dass sich diese Techniken der Werbung auch auf den Content übertragen (lassen). Interessant wird dabei, wie weit somit Contentproduktion auch von Algorithmen übernommen werden kann.
„Romane, die je nach Tageszeit und Leseort ihren Handlungsverlauf anpassen, sind nur die folgerichtige technische Entwicklung dessen, was Spotify mit seiner gerade angekündigten Jogging-Erweiterung ermöglicht. Dabei wird die Schrittfrequenz des joggenden Spotify-Nutzers mit Hilfe von Handy-Sensoren analysiert und mit einer Playlist kombiniert, deren Lieder einen Beat haben, der zur Lauf-Frequenz und zur Geschwindigkeit passt.“
Seltsamer Vergleich, völlig verschiedene Ebenen. Kontext-Medien scheint mir auch ein halbgarer Begriff zu sein, der nichts aussagt und dabei nicht mal cool klingt. Was wäre denn kein Kontext-Medium. Was ist hier Kontext, was ist Medium?