Hugh Gallagher hatte die Idee als erster. Das war 1990. Er schloss sich in einem Hotelzimmer in New York ein und schaute sieben Tage lang den Musiksender MTV an. Sein „Experiment in Terror“-Text erschien anschließend im Rolling Stone und ist jetzt im GenX-Reader von Douglas Rushkoff versteckt. Im Web kann man ihn leider nicht mehr lesen, anders als das Experiment 24 Stunden Fox News von Issac Chotiner oder Ein Tag Bayern 3 von Andreas Bernard.
Die wichtigste Erkenntnis dieser Texte lautet: Alles, was man zu lang macht, ist schlecht (im übrigen kein ganz schlechter Beitrag zur Medienkompetenz-Smartphone-Debatte). Die zweitwichtigste Erkenntnis ist: Das Web vergisst entgegen aller Behauptungen leider doch sehr viel. Denn ich bin mir sicher, dass noch viel mehr Texte dieser Art erschienen sind, ich habe sie aber nicht mehr finden können, weil sie eben nicht archiviert sind. Das ist sehr schade, denn diese Textform eröffnet auch im Rückblick erstaunliche Perspektiven auf mediale Wirklichkeiten.
Bei so genannten sozialen Netzwerken sind diese Selbstversuche kaum möglich, weil deren Inhalte sich stets aus dem speisen, was die Nutzer*innen sich selber zusammenstellen – durch Follower- oder Freundschaften. Twitter, Instagram oder Facebook sehen halt so aus, wie die Nutzer*in es sich zusammenstellt. Im Prinzip ist das bei Tiktok nicht ganz viel anders, aber eben doch ein bisschen. Der Dienst, der zum chinesischen Anbieter ByteDance gehört, hält den so genannten „Für Dich“-Feed bereit, der auch Inhalte ausspielt, wenn man niemandem folgt: „Der ‘Für Dich’ Feed ist ein zentraler Bestandteil der TikTok-Erfahrung aller Nutzer und „Creator“. Er basiert auf neuen Technologien und empfiehlt Videos, die für sie relevant sein könnten. Auf diese Weise können sich Nutzer von den Inhalten aller Mitglieder der TikTok-Community inspirieren lassen“, steht im TikTok-Glossar.
Ich habe in den vergangenen Tagen genau das gemacht: mich von den Inhalten aller Mitglieder der Tiktok-Community inspirieren lassen (Anlass war, dass mir ein Hustenvirus viel Zeit, aber gleichzeitig kaum Kraft bescherte, so dasss ich nicht mehr zustande brachte als Kurzclips auf Tiktok zu schauen). Dabei habe ich nichts geliket oder kommentiert, ich habe keinerlei weitere Interaktion auf der Plattform getätigt als das typische nach oben Swipen zum nächsten Clip. Doch das hat schon eine enorm magnetische Wirkung. Denn die Clips sind so kurz, dass man immer die Hoffnung hat, dass hinter dem nächsten Swipe was Lustiges, Erstaunliches, Sinnvolles kommen könnte. Am Ende aller Swipes blieben ein paar Erkenntnisse übrig, die ich hier festhalte:
1. Es gibt einen direkten Weg vom Numa-Numa-Guy zu TikTok
Mein Versuch ist selber sowas wie das Playback-Singen des Originals von Hugh Gallagher. Ich kenne das Original nicht ganz, imitiere es in Teilen für mich privat und stelle das dann online. Genauso kann man einen zentralen Anreiz an Tiktok (ja, das sind die, die vormals musical.ly hiessen) zusammenfassen – aber eben für Musik oder lustige Zitate. Diese Form des Internet-Playback-Singens hat als einer der ersten webweit Gary Brolsma äußert populär praktiziert (und zwar schon vor Youtube). In Mashup habe ich „das Bild des jungen Mannes“ gelobt, „der den Song, vor seinem Computer sitzend, lippensynchron in eine Webcam singt. Dabei rudert der robuste Brillenträger wild mit den Armen und tanzt im Sitzen. Das US-Magazin „The Believer“ schreibt über den Clip: »Das ist ein Film von jemandem, der eine wunderbare Zeit hat, der diese Freude mit jedermann teilen möchte und sich dabei überhaupt nicht darum kümmert, was andere über ihn denken könnten.« Über Gary Brolsma wurde im Februar 2005 in der New York Times berichtet, auch die BBC und zahlreiche Fernsehersender erzählten die Geschichte des nach dem Refrain des Songs benannten »Numa-Numa-Dance«. Der junge Mann aus New Jersey löste damit eine neue Mode aus: Überall auf der Welt folgten Menschen seinem Vorbild (man könnte auch sagen, sie kopierten ihn), filmten sich mit Webcams und stellten die Clips ins Internet. »Jeder wollte der Numa-Numa-Typ sein«, schreibt Douglas Wolk in The Believer. »Diese Kids verspotten den Numa-Numa-Typen nicht, sie verehren ihn. Sie sind Geeks, und sie ehren den König der Geeks. Es ist wunderbar, das anzuschauen, weil sie seine Freude wiederholen und verbreiten.« Wolk kommt zu dem Schluss: »Das alles wirkt weniger wie ein ansteckender Scherz als wie der Beginn einer neuen kulturellen Ordnung.«
Von dieser neuen kulturellen Ordnung handelt mein Lob der Kopie – und Tiktok hat daraus ein Geschäftsmodell gemacht. Tiktok gibt Menschen die Mögichkeit, Songsequenzen oder lustige Zitate lippensynchron nachzuspielen. Und darin liegt heute noch immer der gleiche Zauber wie zu Numa-Numa-Zeiten.
2. Ich habe selten so viele Kacheltische und Schrankwände gesehen
Wer der Meinung ist, auf Instagram sei zu viel gefiltert und weichgezeichnet, der sollte sich als Gegenmittel mal länger auf Tiktok umschauen: Mir fällt kein anderes soziales Netzwerk ein, in dem ich häufiger mit deutscher Durchschnitts-Mittelzentrum-Treppenhaus-Schrankwand-Einbauküche-Realität konfroniert worden wäre als auf Tiktok (der Kollege Max Scharnigg hat dafür schon vor einer Weile den Kacheltisch zum relevantesten Einrichtungsgegenstand erklärt) Das ist vielleicht meinem „Für Dich“-Feed geschuldet und vielleicht auch nicht repräsentativ, aber doch bemerkenswert – und passt auch zu Gary Brolsma. Denn wer vor lauter Begeisterung in seinem Badezimmer etwas nachsingt, kümmert sich nicht zuerst um die Ausstattung der Nasszelle, der singt einfach. Klar, helfen dann ein paar Tiktok-Filter und ein Licht an der Kamera um einen schönen Clip zu produzieren. Im Hintergrund bleibt jedoch die Nasszelle im Bild. Und die gehört ja auch irgendwie dazu – ach komm, ich lass das jetzt so.
3. Es geht darum, Witze weiterzuerzählen
Dass bei mir irgendwie ein Anklang an RTL2 hängen blieb, mag auch an Jasmin liegen. Jasmin ist eine Teilnehmerin einer oder mehrerer RealityTV-Formate des Senders, die es mit einem verunglückten Zitat zu echter Berühmtheit in Tiktok geschafft hat. In einer offenbar im TV ausgestrahlten Szene kommt Jasmin in ein Restaurant und stellt sich vor. Sie missversteht die Antwort ihres Gegenübers, was ein bisschen lustig ist. Richtig lustig wird es für die Tiktok-Creator (wie die Plattform die aktiven Nutzer*innen nennt) aber erst dadurch, dass sie diesen Witz immer und immer wieder nacherzählen. Sie spielen ihn in verteilten Rollen (Duett) oder alleine nach und erfreuen sich daran. Das basiert auf dem Grundprinzip aller Meme und wird hier in einer Weise fortentwickelt, die irgendwie an die Frühphase von Stefan Raabs TV Total erinnert – nur demokratisierter. Jede und jeder kann hier einen Maschendrahtzaun-Versprecher nehmen und verulken. (Dass die Creatoren dabei zuweilen selber solche Versprecher produzieren, fällt ihnen zumeist nicht auf).
Nach einer gefühlten Mittelzentrum-Kacheltisch-Ewigkeit (in der ich einerseits eine Menge Musik gehört habe, die auch in klassischem Beste-Hits-Radio läuft – kennt jemand diesen Holterdiepolter-Mist? – und andererseits unzählige Frauen, die Carolin Kebekus Witze lippensynchron nacherzählen) zeigte mir mein „Für Dich“-Feed übrigens auch sehr viele internationale Beispiele, die illustrieren, warum der beste Tiktok-Experte, den ich kenne (Philipp Metamythos Meier), die Plattform hier mal als die „UNO des neuen Jahrtausendes“ beschrieben hat: „Auffallend viele Reime, Gesten, Wortspiele, Gesänge und Witze funktionieren über die unterschiedlichsten Kulturen hinweg.“
4. Ein wichtiger Antrieb ist der Zauber der Verwandlung
Eines der Memes, das über unterschiedlicheste Kulturen hinweg funktioniert, ist jenes, bei dem der Creator in dem kurzen Clip in zwei Versionen zu sehen ist. Nicht selten wird dafür ein Videoschnitt genutzt, bei dem die Hand kurz die Linse verdeckt (wie in diesem auf Chris Lawyers „Right on Time“ basierenden Meme). Danach sind sehr viele Creatoren plötzlich als Cowboys zu sehen. So jedenfalls funktioniert das Meme-Prinzip beim Sommerhit „Old Town Road“, an dessen Geschichte man perfekt illustrieren kann, wie TikTok das Musikgeschäft verändert. Hier gibt es eine Zusammenstellung einiger Kurzclips, in denen normale Menschen, plötzlich in Cowboy-Outfit zu sehen sind. Diese inszenierte Verwandlung gibt es in ganz vielen unterschiedlichen Spielarten auf der Plattform zu bestaunen – und Dazed zeigt seit ein paar Wochen, wie auch klassische Medien sie einsetzen können.
5. Am Ende geht es wie immer um: Identität
TikTok ist ein soziales Netzwerk. Es hilft Menschen dabei, sich im Netz dazustellen. Ein Profil anzulegen und Beiträge zu posten, heißt in erster Linie: Teilhabe. Man drückt aus: „Ich bin auch dabei, ich singe mit, erzähle einen Witz, ich verstehe das Spiel.“ Doch wirklich erfolgreich wird Social-Media erst dann, wenn es darüberhinaus identitätsstiftend wird (dazu mein kaum großspuriger Beitrag „Alles, was ich über Social Media weiss“ aus dem April 2016). Creatoren müssen in der Lage sein, ihre Persönlichkeit auszudrücken. Dabei sind mir drei interessante Varianten aufgefallen, die dem Playback-Prinzip auf kreative Weise persönliche Ausdrucksmöglichkeiten ergänzt haben. Die erste basiert auf den ersten Sekunden des „Choices“ genannten Tracks des Rappers E-40 aus dem Jahr 2011. Dabei wechseln sich in kurzer Folge ein ablehnendes „No“ und ein zustimmendes „Yup“ ab. Creatoren nutzen diese Sequenz um sich selbst zu filmen und den Track als Antwort auf Fragen zu nutzen, die sie sich selber im Bild stellen. Dabei können die Fragen völlig unterschiedlich sein, verbindend ist, dass sie in Nein/Ja-Abfolge beantworten werden – und dass andere sich eben auch genauso vorstellen. Das ist der Kern von Identität in Social-Media: das Eigene in der Gemeinschaft der anderen. Wie das mit festen Fragen funktioniert – Variante zwei -, zeigt eine Sequenz aus dem Song „What’s your name?“ von Chase Rice. Darin werden kurz hintereinander Fragen nach Namen, Herkunft, Sternzeichen, Lieblingsgetränk und Lieblingssong gestellt, die die Creatoren als Textfeld im Selfie-Clip beantworten. Und die dritte Variante, die ich beispielhaft für die identitätsstiftende Funktion aufführen will, hat der empfehlenswerte funk-Fußballkanal „@Wumms“ hier am Beispiel DFL und Videoschiedsrichter umgesetzt. Auf Basis einer Sequenz aus dem Song „Jump in the Line“ von Harry Belafonte zeigen Creator wie sie persönlich auf Versprechungen reingefallen sind („I Believe you“). Das Erstaunliche dabei für mich: Alle genannten Songs tauchte so häufig in meinem Feed auf, dass ich sie anschließend sehr lang als Ohrwurm hatte. Womit wir wieder beim Erfolg Old Town Road wären.
Ich bin mir völlig bewusst darüber, dass dieser Eindruck absolut zufällig und subjektiv ist. Da ich aber ständig Leute höre, die mir sagen, dass sie TikTok nicht verstehen, dachte ich mir: Vielleicht hilft es aufzuschreiben, was ich nach einer Weile TikTok-Nutzung glaube verstanden zu haben. Was ich vom Internet glaube verstanden zu haben, habe ich übrigens in ein ganzes Buch geschrieben ;-)