Thomas Ernst ist Geisteswissenschaftler und lehrt Germanistik und Medientheorie in Amsterdam und Antwerpen. In seiner Habilitationsschrift hat er sich mit dem Verhältnis von Literatur und Sozialen Medien befasst. Er bloggt und ist bei Twitter aktiv.
Du machst jetzt etwas, das du vorher im direkten Austausch mit Menschen gemacht hast, über eine digitale Verbindung. Hast Du Dich schon dran gewöhnt? Bzw. was irritiert Dich immer noch?
Da ich als Wissenschaftler sowieso den Großteil meiner Arbeitszeit hinter einem Computer verbringe, war die Umstellung für mich nicht wirklich riesig. Allerdings musste ich sehr schnell viele neue Tools und Techniken erlernen, das war anstrengend. Überhaupt habe ich die digitale Lehre und die Verantwortung für meine Studierenden in diesen herausfordernden Zeiten als intensiv erlebt – ich war durchgängig wesentlich müder als in normalen Semestern.
Zugleich ist mein Semester schon seit zwei Wochen vorbei, weshalb ich diesen Prozess bereits zu reflektieren begonnen habe. Dazu habe ich auch unter meinen Studierenden eine Evaluation durchgeführt, die in doppeltem Sinne hilfreich war: Erstens waren die vielen positiven Rückmeldungen sehr motivierend, zweitens haben die Studierenden sich sehr differenziert – mit Lob und Kritik – zum digitalen Unterricht positioniert. Für mich steht fest, dass das Coronasemester in dieser Form nicht optimal sein konnte, dass es jetzt aber wichtig ist, dass wir diese Erfahrungen – gerade mit digitalen Tools und Techniken – reflektieren und dann in ein besseres Blended Learning der Zukunft einfließen lassen.
Irritationen lösen bei mir vor allem jene gesellschaftlichen Kräfte aus, die trotz der anhaltenden gesundheitlichen Gefahren einfach so schnell wie möglich wieder zum Status quo der Vor-Corona-Zeit zurückkehren wollen. Die Erfahrungen in der Krisenzeit können die Gesellschaft jedoch auch nachhaltig zum Besseren verändern: Die Lehre kann digitaler und besser werden, in meinem Wohnort Brüssel gab es einschneidende Verbesserungen in der Verkehrspolitik… Wir sollten diese Krise nicht nur als eine, die unsere Gesundheit und Ökonomie angreift, verstehen, sondern auch die nachhaltige Verbesserung unserer Kultur im Blick behalten.
Was war die größte Hürde, die Du überwinden musstest?
Da in Belgien das Semester schon in der zweiten Februarwoche angefangen hatte, mussten wir im laufenden Semester Mitte März die Lehre komplett auf Digitalunterricht umstellen. Das war eine ziemliche Herausforderung. Meine Uni in Antwerpen hat das aber gut geregelt: Wir haben eine zentrale Lernplattform, Blackboard, und recht schnell pragmatische und gute Einführungskurse in die Liveunterrichtsfunktion erhalten; da ich schon immer mehr digitale Elemente in meine Lehre integrieren wollte (und auch in der Vergangenheit zum Beispiel das Weblog „Digitur“ (PDF) mit Studierenden aufgebaut habe), fand ich das grundsätzlich eine Chance.
Von der technischen Ausstattung her war das für uns kein Problem, aber es ist sicherlich so, dass viele Studierende in diesem Coronasemester benachteiligt waren, z.B. weil sie eine für das Lernen ungünstige Wohnsituation haben, ihren Nebenjob verloren haben, eine zu geringe Web-Bandbreite haben oder generell technisch schlecht ausgestattet waren (Laptop, Headset). Digitale Lehre muss einen hohen Aufwand betreiben, um die schon bestehenden Bildungsungleichheiten nicht noch zu verstärken.
Zudem waren die Uni-Bibliotheken geschlossen oder nur eingeschränkt nutzbar. Ich engagiere mich sehr für Open Access und neue Wege des digitalen Publizierens – diese Krise hat nochmals gezeigt, dass schon lange alle wissenschaftlichen Veröffentlichungen digital bereitstehen könnten, wir aber noch immer zu viele Hürden auf diesem Weg überspringen müssen. Dass inzwischen die KMK sogar dafür gesorgt hat, dass Fernleihen von Aufsätzen nicht mehr als Scan, sondern wieder als Ausdruck per Post verschickt werden müssen, ist absurd.
Gibt es etwas, das jetzt besser ist als vorher?
Ich finde vor allem drei Erfahrungen nachhaltig: Erstens musste ich viele Möglichkeiten des digitalen Lernens ausprobieren, die ich schon lange auf dem Schirm hatte. Der zielgerichtete Einsatz von eigenen Videos, der Aufbau eines gemeinsamen Wikis, die Binnendifferenzierung der Seminargruppe in Breakout Rooms, die mögliche Parallelität von Livegespräch und schriftlichem Feedback im Gruppenchat – solche Funktionalitäten sind wichtig und werde ich auch in Zukunft nutzen.
Das werde ich dann zweitens im Sinne des Blended Learning machen, also einer sinnvoll portionierten Verschränkung von analogen und digitalen Lehrmomenten. Das ist noch immer ein Experiment, doch nach diesen rein digitalen Erfahrungen bin ich sicher, dass eine solche Mischung zu einem besseren Lernerfolg der Studierenden beitragen kann. Allerdings wird es dazu wichtig sein, die traditionelle Struktur von regelmäßigen Präsenzveranstaltungen im Kombination mit Prüfungsformen wie Klausur und Hausarbeit durch kollaborative Schreib- und Reflexionsformen auf einer digitalen Lernplattform zu ergänzen oder in Teilen zu ersetzen. Zwangsläufig müssten dann auch einzelne Seminarpläne und Lehrinhalte modifiziert werden.
Drittens hat die Erfahrung der digitalen Kommunikation vielleicht eine positive Auswirkung auf die negativen Umwelt- und Zeiteffekte der Wissenschaft: Viele Kolleg*innen sind Pendler (manche mit 500-1000 Reisekilometern wöchentlich), zu Konferenzen müssen oft Flüge gebucht werden. Nature konstatiert, dass der Schadstoffausstoß aller etwa 7,8 Millionen Wissenschaftler*innen weltweit, wenn sie nur eine Konferenz jährlich besuchten, demjenigen eines kleinen Landes entspreche. In diesem Coronasemester haben wir jedoch die Autorin Kathrin Röggla in ein Masterseminar eingeladen, ohne dass sie extra reisen musste und dafür anderthalb Tage ihre Familie hätte verlassen müssen; ich habe zwei auf digitalen Plattformen durchgeführte Konferenzen reisefrei besucht (die Reise hätten ebenfalls zu Terminkollisionen geführt); und ich werde im November selbst eine Konferenz digital durchführen. Zwar werden hoffentlich weiterhin viele akademische Veranstaltungen vor Ort stattfinden; dass aber zum Beispiel für anderthalbstündige Gremiensitzungen zukünftig nicht mehr zwanzig Personen addiert zwei Arbeitstage im Stau verbringen müssen, erscheint mir eine sehr gute Entwicklung…
Im direkten Austausch gibt es stets irgendeine Form von Rückmeldung, eine Stimmung im Raum. Wie löst du das Problem, dass das online nur sehr viel schwieriger wahrzunehmen ist?
Es ist der Tat in so: Wenn man bei einer Sitzung im selben Raum mit den Kolleg*innen sitzt oder wenn man die Studierenden im Seminar vor Ort unterrichtet, kann man sehr schnell auch kleinste Signale wahrnehmen: Wer ist alles da, wer fehlt? Wie ist die Aufmerksamkeit, wer ist dabei und wer gedanklich abwesend? Kommt eine Bemerkung gut oder schlecht an? Ist eine Pause angebracht? All diese kleinen Signale, die sich in Gestik, Mimik, Sitzstellung, Geräuschkulisse äußern, fehlen. Ich habe in einer Studie gelesen, dass dies bei den Lehrenden einen wesentlich größeren Stress produziert, weil wir ständig versuchen, diese kommunikativen Leerstellen zu füllen.
In dieser Coronakrise hat das dazu geführt, dass meine Lehre wesentlich zeitaufwändiger war, weil ich neben dem eigentlichen Unterricht viel mehr Sprechstunden angeboten habe – mit Studierenden alleine, mit Arbeits- bzw. in Kleingruppen – und öfter zu Beginn einer Sitzung nachgefragt habe, wie es den Seminarteilnehmer*innen gerade geht. Das kostet alles viel mehr Zeit und Energie, die man im Seminarraum nur en passant in einen kurzen Blick investieren müsste (soziale Gesten wurden wichtiger, so hat mir die Uni Amsterdam einen Blumenstrauß als Dank für den ‚Kriseneinsatz‘ nach Hause geschickt, das fand ich toll).
Aus dieser Erfahrung heraus werde ich sauer, wenn behauptet wird, dass man durch digitale Lehre Geld im Erziehungssystem einsparen könnte, oder wenn ich lese, dass eine Uni für digitale Lehre ein geringeres Deputat berechnet. Diesen Gedanken kann man nur verfolgen, wenn man vom dummen Klischee der Massiv Open Online Courses ausgeht: Irgendwo in der Welt verteilt schauen sich große Massen die immer gleichen Videos an und erarbeiten sich dann die Inhalte autodidaktisch. Dass diese Kurse offenbar nur 5% der Studierenden erfolgreich abschließen, hat die FAZ zum Ausgangspunkt genommen, um gegen digitale Lehre allgemein zu polemisieren.
In Wirklichkeit ist die digitale Lehre harte und aufwändige Arbeit, die finanzielle Ressourcen bindet: Zunächst müssen alle mit Hard- und Software und Bandbreite ausgestattet werden; dann Lehrmedien für jede Studierendengruppe spezifisch produziert und bereitgestellt werden; der/die Dozent/in muss den Live-Unterricht anbieten, die Seminargruppe kennenlernen und binnendifferenzieren; dann regelmäßig und nach Bedarf individualisierte Gespräche anbieten; den Studierenden Feedback geben und Lernerfolge überprüfen. Insbesondere um der zentralen Gefahr der Digitallehre angemessen begegnen zu können, dass insbesondere Studierende in schwierigen sozial-ökonomischen Situationen und/oder aus bildungsfernen Hintergründen auf der Strecke bleiben, muss viel in die Qualität digitaler Lehre investiert werden.
Welchen Ratschlag würdest du jemandem geben, die/der jetzt auch ins Online-Streaming einsteigt?
Die Umstellung war überhaupt nicht so schlimm, wie manche Kolleg*innen befürchteten. Man sollte sich also weder von den Digitalenthusiast*innen noch von den -kritiker*innen verrückt machen lassen, sondern einfach selbst ausprobieren. Wichtig ist Offenheit, Lernbereitschaft und eine kritische Selbstreflexion.
Wir haben gleich zu Beginn der Umstellung auf digitale Lehre das Portal „Digitale Lehre Germanistik“ aufgebaut. Mit vier anderen Kolleg*innen haben wir in diesem Prozess vorab „Vorschläge für eine konstruktive Selbstreflexion“ (PDF) dieses Prozesses formuliert. Eine solche Selbstreflexion – was war gut, was war schlecht, was sollten wir mit in die Zukunft nehmen – wollen wir nach Abschluss des Coronasemesters in Deutschland unbedingt in Angriff nehmen, also wohl im Juli. Allerdings sehen wir auch einen großen Drang bei vielen Kolleg*innen, möglichst schnell den Status quo von vor der Krise herzustellen, so ist gerade ein offener Brief unter dem Titel „Zur Verteidigung der Präsenzlehre“ veröffentlicht worden. Es ist aber vielleicht ein Fingerzeig, dass inzwischen viele Kolleg*innen meinen, eine solche Verteidigungsposition einnehmen zu müssen…
Zum Abschluss: Kannst du noch kurz erklären, wie (also mit welcher Soft-/Hardware) du jetzt online gehst?
Das muss ich zweigeteilt beantworten: Einerseits hat es sich als ein großer Vorteil erwiesen, dass die Universiteit Antwerpen mit Blackboard eine Lernplattform nutzt, die sehr viele wichtige Funktionalitäten bereitstellt: Live-Klassenräume, digitale Semesterapparate, Video-Aufnahmefunktion, Wikis, Foren usw. Das ist eine große Erleichterung, zumal wir schnell gute Fortbildungen erhalten haben (in Amsterdam gilt dasselbe für die Plattform Canvas).
Für die Gespräche mit Kolleg*innen anderer Universitäten oder die Teilnahme an Konferenzen, die auf Online-Plattformen verlegt wurden, habe ich eine Vielzahl von Anbietern genutzt: Blackboard Collaborate ultra, Skype, Microsoft Teams, Zoom, BigBlueButton, Facetime, WhatApp. Hier wäre es gut, wenn sich die Universitäten perspektivisch auf eine oder zwei Varianten als Standards einigen würden, die im Idealfall stabil funktionieren, Open Source sind und die Datensouveränität ihrer Nutzer*innen beachten.
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Dieses Interview ist Teil einer kleinen Serie hier im Blog, die sich mit Streaming und Video-Konferenzen befasst. Dazu sind erschienen:
> Eine Betrachtung über Geisterspiele in der Bundesliga
> Richard Oehmann von der Band Cafe Unterzucker über Band-Musik im Stream
> Interview mit Jasmin Schreiber von Streamkultur
> Shruggie des Monats: Der Live-Stream
> Zehn Lehren aus der Coronakrise für Videokonferenzen und Live-Streams
> Performance-Künstler Marcus John Henry Brown über die Herausforderung, Menschen im Stream zu halten
> Social-Media-Experte Michael Praetorius über Workshops im Stream
> Pfarrerin Miriam Hechler über Gottesdienst im Stream
> Museums-Experte Maximilian Westphal über Führungen im geschlossenen Museum
> DJ Ivo Schweikhardt übers Auflegen im Stream
> Autor Pierre Jarawan über Workshops zum Kreativen Schreiben im Stream
> Musikerin Maria über Musikunterricht im Stream
> Denny Leo Kinder über Friseure im Stream
> Wolfgang Tischer über Lesungen im Stream
> Die Therapeuten Imke Herrmann und Lars Auszra über Therapie im Stream
> Lehrer Philippe Wampfler über Unterricht im Stream
> Autor Tom Hillenbrand über Krimis auf Twitch
> VHS-Chef Christof Schulz über Volkshochschule im Stream
> Zukunftsforscher Gerd Leonhard über die Zukunft von Live-Events und Live-Streams
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