Man muss Dieter Nuhr dankbar sein. Dem ARD-Witzemacher, der sich als Kämpfer gegen den Zeitgeist inszeniert, ist diese Woche eine erstaunliche Vorlage zur Aufklärungsarbeit geglückt. In der ARD-Sendung „Nuhr im Ersten“ hat er eine Buch-Cover-Kritik zu dem unbedingt empfehlenswerten Buch „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ angefertigt. Dabei nannte er (ab Minute 16) den ersten Teil des Titels (den zweiten lies er erstaunlicher- und passenderweise weg) und sagte:
Das hätte mich vielleicht sogar interessiert, aber mir war der Titel ein bisschen zu rassistisch. Zu glauben, die Hautfarbe, ob weiß oder schwarz egal, bringe automatisch eine bestimmte Haltung mit sich: das ist ja klassischer Rassimus.
Danach behauptet er noch, das Buch der Kölnerin (Nippes!) Alice Hasters sei „in den USA ein Riesen-Renner“ gewesen und deshalb „maßgeblich dafür verantwortlich, dass es so etwas wie Donald Trump geben konnte“. Der letzte Teil ist blanker Unsinn, weil das Buch bisher nur auf deutsch erschienen ist. Aber auch der erste Teil ist keine mutige Meinung, die Nuhr hier zum besten gibt, sondern Ausdruck einer erstaunlichen Unkenntnis, der man nicht mit Widerspruch, sondern nur mit Bildung begegnen kann: In seiner „Form der Schein-Intellektualität“ zeigt Dieter Nuhr nämlich vor allem wie wenig er über das Thema Rassismus und strukturelle Diskriminierung weiß.
Es handelt sich hier also nicht um einen Meinungsstreit, sondern um einen Mangel an Bildung. Weshalb die beste Antwort auf Nuhrs Beitrag nicht Widerspruch, sondern die Empfehlung ist: Lies das Buch!
Es ist Ausdruck eines großen Privilegs, dieses Wissens nicht zu haben. Und genau dafür hat Alice Hasters ihr Buch geschrieben. Hätte Dieter Nuhr oder wenigstens irgendeine Mitarbeiter:in beim Sender das Buch auch nur kurz in die Hand genommen, hätten sie erstens gemerkt, dass der US-Bezug nicht funktioniert, sie hätten aber vor allem gelesen, dass Alice Hasters direkt auf den ersten Seiten des Buches die Antwort auf den Vorwurf gibt, den Nuhr formuliert.
Es gibt keinen Rassismus gegen Weiße – und das liegt daran, dass Rassismus in erster Linie keine private Einstellungsfrage, sondern ein gesellschaftliches Ordnungssystem ist.
Dieter Nuhr vertritt in seinem kenntnisfreien Witzchen eine Ansicht, die mir nicht unbekannt ist und die man erklären kann: Wer „ob weiß oder schwarz egal“ sagt, blendet damit die systemische und strukturelle Ebene des Rassismus aus und tut so als spiele Hautfarbe keine Rolle. Das ist zwar das Ziel anti-rassistischer Politik, so zu tun als sei es bereits erreicht, führt zu der falschen Annahme, der Titel des Buches sei selbst rassistisch. Das ist er nicht – und Alice Hasters erklärt das für alle, die die Fähigkeit aufbringen, das Buch aufzuklappen.
Viele Menschen gehen davon aus, dass grundsätzlich jede Person von Rassismus betroffen sein könnte. Diese Menschen sehen Rassismus als rein individuelle Haltung. Wie ein einzelner Mensch die Welt sich ordnet, hat erst einmal wenig Konsequenzen. Doch Rassismus ist ein System, das mit der Absicht entstanden ist, eine bestimmte Weltordnung herzustellen. Es wurde über Jahrhunderte aufgebaut und ist mächtig. Darin wurde die Hierarchie rassifizierter Gruppen festgeschrieben, und die lautet, ganz grob: Weiße ganz oben, Schwarze ganz unten.
Wer über Rassismus spricht, muss also unbedingt den Kontext mitbedenken und kann aus dem systemischen Problem nicht einfach eine individuelle Privatsache machen. Das ist schwierig, gerade für weiße Menschen, die das Privileg haben, nicht ständig den Mirkoaggressionen ausgesetzt zu sein, die Alice Hasters in dem Buch als Ausdruck von alltäglichem Rassismus beschreibt, der sich auch aufgrund der Geschichte und des Kontext zeigt. Das anzuerkennen ist unangenehm und Dieter Nuhr beweist mit seinem Auftritt, wie Recht sie hat, wenn sie schreibt:
Selten fühlen sich weiße Menschen so angegriffen, allein und missverstanden wie dann, wenn man sie oder ihre Handlungen rassistisch nennt. Das Wort ,Rassismus‘ wirkt wie eine Gießkanne voller Scham, ausgekippt über die Benannten. Weil die Scham so groß ist, geht es im Anschluss selten um den Rassismus an sich, sondern darum, dass ich jemandem Rassismus unterstelle.
Dieses Dilemma wird sich am besten lösen lassen, wenn wir beginnen zu reflektieren, statt Vorwürfe in den Raum zu schleudern. Das Buch hat bei mir genau diesen Reflektionsprozess ausgelöst, in dem ich weiterhin stecke: Ich versuche meine Privilegien zu reflektieren und die Strukturen zu verstehen, die Rasssismus begünstigen. Denn natürlich habe ich individuelle Verantwortung für rassistisches Verhalten, aber gleichzeitig gilt auch: Rassismus…
… ist schon so lang und so massiv in unserer Geschichte, unserer Kultur und unserer Sprache verankert, hat unsere Weltsicht so sehr geprägt, dass wir gar nicht anders können, als in unserer heutigen Welt rassistische Denkmuster zu entwickeln.
Diese Beschreibung hat zentrale Bedeutung für das ganze Buch, das die Kraft hat, den Reflektionsprozess anzustoßen, den die Gesellschaft bräuchte um langfristig gegen Rassismus vorzugehen. Deshalb wäre es so viel sinnvoller, Dieter Nuhr nicht zu beschimpfen, sondern ihm die Lektüre des Buches nahezulegen – weil es ihm hilft, seinen blinden Fleck zu überwinden. Und es hilft nicht nur ihm, sondern allen, die das Glück hatten, sich bisher nicht mit Rassismus befassen zu müssen.
Lest dieses Buch, verschenkt es zu Weihnachten und tragt zunächst die konstruktive Botschaft des Buches weiter, bevor ihr euch Empörung und Streit aussetzt. Bei der Bundeszentrale für politische Bildung (wo es am 10.11. veröffentlich wurde) ist es übrigens schon vergriffen!