Ted Lassos Rick-Rolling, Aldi-Girl Victoria Elaine, Kopfhörer-Mikro, Dominik Artefex sowie Conni und Jakob – Netzkulturcharts September 2021

[grey_box]

Die Netzkulturcharts sind ein völlig subjektives Ranking netzkultureller Phänomene, die ich auffällig finde. Sie erscheinen monatlich als Teil meines Newsletter „Digitale Notizen“ und umfassen besondere Accounts, Memes und Ideen, die ihren Ursprung im Netz haben, sich mit dem Internet befassen bzw. so nur im Netz aufkommen können. Der Begriff „Netzkultur“ ist dabei bewusst offen und der zeitliche Bezug kann schlicht daran liegen, dass mir dieses Phänomen erst in dem Monat aufgefallen ist. Die Charts vom August stehen hier und werden in diesem Monat von fünf Neueinsteigern ersetzt.

Vorschläge gerne per Mail an mich oder auf Twitter @dvg oder Instagram @dvg mit dem Hashtag #netzkulturcharts.

[/grey_box]

Platz 1 Ted Lasso Rick Rolls Us 🆕

Man kann den Zauber der Serie Ted Lasso kaum besser zusammenfassen als in diesen drei Minuten einer Beerdigungsszene aus der jüngsten Folge der AppleTV-Serie, die gerade mit Emmys ausgezeichnet wurde. Es geht um die Umdeutung des des netzkulturellen Phänomens des Rick-Rolling in einer neuen, sehr emotionalen Form. Sogar Rick Astley selbst meldete sich kurz nach der Folge „No Weddings and Funeral“ zu Wort, weil ihn der gemeinsame Gesang der Hauptfiguren berührte. Für die Netzkulturcharts ist diese Szene wichtig, weil sie dem virtuellen Klingelstreich des Rick-Rollings eine neue Ebene ergänzt. Mit dieser umgedeuteten Referenz ist den Macher:innen von Ted Lasso eine netzkulturelle Meisterleistung geglückt, die deshalb so emotional ist, weil das Rick-Rolling zuvor so albern war. Wenn man so will, bildet die Albernheit des Ursprungsmemes eine Art Schutzmantel für den Ted-Lasso-Gesang, der so nie kitschig wirkt. Dieses Prinzip durchzieht die gesamte absolut empfehlenswerte Serie – und kann womöglich als gegenwärtige Form popkultureller Emotionalität gedeutet werden. Damit belegen sie in diesem Monat eindeutig den ersten Platz dieser Hitparade hier – und schenken allen Zuschauer:innen einen besonderen Ohrwurm.

Platz 2 Aldi-Girl Elaine Victoria 🆕

Im Jahr 2013 veröffentlichte die britische Sängerin Jessi J gemeinsam mit Dizzy Rascal und Big Sean den Song „Wild“. Acht Jahre später geistert eine Sequenz aus dem Song durch Tiktok und vertont unter anderem auch einen extrem erfolgreichen Clip der Nutzerin Elaine Victoria. Darin sieht man sie in Dienstkleidung des Discounters Aldi (Nord) an einer Supermarktkasse sitzen. Sie hat offenbar eine Kamera neben den Kassenscanner gestellt und filmt sich bei einem kleinen Sitztanz, der erst Tiktoker:innen und dann Medien weltweit in Aufregung versetzt hat. Damit bildet dieser kurze Clip die aktuellste Illustration für das Social-Media-Versprechen, im viralen Web jederzeit vom Tellerwäscher zum Aufmerksamkeits-Millionär zu werden. Verstärkend kommt im Fall von Elaine Victoria das popkulturelle Bild des Alltäglichen hinzu, das Thees Uhlmann in „Mädchen von Kasse 2“ in einen Song gegossen hat. Medien weltweit fragen deshalb: Ist Elaine Victoria die schönste Supermarkt-Kassiererin der Welt? (exemplarisch hier The Sun) Die Antwort scheint mir ziemlich sinnlos, jedenfalls sinnloser als dieser schöne kleine Hype im September 2021.

Platz 3 Das Kopfhörer-Mirko 🆕

Der ohnehin empfehlenswerte Matthias Renger macht es in seinen tollen PR-Beratungsclips immer wieder vor: an seinen Kopfhörer-Kabeln befindet sich mittig ein Mikro, in das man reinsprechen kann. Meinem Gefühl nach ist dieser Kopfhörer-Reinsprech-Move in den vergangenen Monaten zu einer besonderen netzkulturellen Geste geworden, die ich so vorher selten gesehen haben. In zahlreichen Clips ist diese Form des Ton-Angelns zu sehen, sogar in Interviews. Geboren aus der Not, keine externen Mikrofone zur Hand zu haben, ist dieser Griff zum Kopfhörer-Kabel so zu einer Charts-tauglichen Bewegung geworden, die mich tatsächlich ans Aufkommen des Ringlichts erinnert – und die ich deshalb hier würdigen möchte. Und mindestens durch die Bebilderung möchte ich auch auf die schon seit langem äußerst tollen Videos von Matthias Renger verweisen.

Platz 4 Giesela von Dominik Artefex 🆕

Dass der Arbeitskontext für Tiktok-Clips ein erfolgsversprechender Rahmen ein kann, beweist nicht nur Aldi-Girl Elaine Victoria (siehe oben). Der Account Dominik Artefex zeigt seit einer Weile eine Tiktok-Variante des Bürobüro-Humors der 1980er Jahre – aber zeitgemäß und durchaus lustig. Der Grund: Dominik gelingt es mit den Figuren der Ingrid und der Giesela ein Symbol für deutsche Veränderungs-Aversion zu spielen, die „Oh mein Gott“ ganz schön anstrengend, aber auch erstaunlich ist. Sie spielt in der Bürokratie öffentlicher Verwaltung, ist aber sicher auch in anderen Bereichen zu finden. Besonders schön ist das Duett, das er als Giesela mit den Aufzugboys von Tim Schaecker (siehe dazu Alors on Danse) gedreht hat.

Platz 5 Conni und Jakob Memes 🆕

Das sind ja gleich zwei Vorteile auf einmal: eine kleine nostalgische Erinnerung und ein schöner Kontextbruch. Auf diesen beiden wichtigsten Treibern basiert der Erfolg der Conni- und Jakob-Memes, die erfahrene Reddit-Nutzer:innen schon länger verfolgen. Dennoch sollen sie in dieser Hitparade gewürdigt werden, weil die Kombination der Kinderbuch-Figur Conni mit aktuellen politischen Themen, die Conni maximal kinderbuchavers löst, mindestens eine schöne Spielerei der deutschsprachigen Internet-Kultur bietet.

Besondere Erwähnung

Tiktok hat in diesem Monat verkündet, eine Milliarde Nutzer:innen in der App zu haben. Das hat vorher kein Angebot geschafft, das nicht aus dem Hause Facebook oder Google kam. Rund um die Bundestagswahl gibt es eine Menge bemerkenswerte kleine netzkulturelle Beobachtungen, mindestens auf den Aufstieg der Kinderreporter sei hier aber besonders hingewiesen. Im Standard hat Nora Reinhard zudem eine sehr empfehlenswerte Geschichte über den Tiktok-Überhit „Pieces“ geschrieben – der Song stammt vom Wiener Komponist Danilo Stankovic, mit dem Nora gesprochen hat.

[white_box]
Die Netzkulturcharts sind eine subjektive Rubrik aus meines Newsletter „Digitale Notizen“. Mehr über Netzkultur in meinem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“. Die Platzierungen der Vormonate sind hier nachzulesen.

[/white_box]