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Dieser Text ist Teil der Januar-Folge meines monatlichen Newsletters „Digitale Notizen“, den man hier kostenlos abonnieren kann.
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Fehler haben eine zauberhafte Eigenschaft: Sie weisen uns manchmal auf Aspekte hin, die wir sonst übresehen. Wenn wir sie denn bemerken. Dass da im letzten Wort des ersten Satzes ein Buchstaben-Dreher versteckt ist, übersehen wir manchmal, weil wir sehr gut und sehr schnell darin sind, Dinge in Formen zu gießen, die bekannt, gelernt und scheinbar sinnvoll sind. Fehler können dazu beitragen, die Perspektive zu ändern. Und wer hier regelmäßig mitliest, ahnt: Ich mag Perspektiv-Wechsel.
Deshalb mochte ich auch den Fehler, den ich unlängst in der Pizzeria meines Vertrauens entdeckte. An dem Abend, an dem ich ohne Smartphone (deshalb kein Foto) hinging, um Pizza abzuholen, war nur Barzahlung möglich. Ein Schild an der Eingangstür informierte die Besucher:innen darüber – versehen mit dem Abschluss: „Danke für Ihren Verstand“ (Symbolbild: Unsplash)
Der Google-Übersetzer behauptet, dass das italienische Wort comprensione sowohl Verstand als auch Verständnis bedeuten kann. Und dennoch beschäftigte mich das Pizza-Schild fast den ganzen Monat.
Danke für Ihren Verstand
Was für ein toller Satz. Er setzt voraus, dass der oder die Andere in der Lage ist, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Aber nicht nur das. Der Satz inkludiert auch die Dankbarkeit dafür. Es ist nicht selbstverständlich, es ist nicht ohne Mühe, dies zu tun. Die Wertschätzung dafür, den Verstand zu gebrauchen, bringt der Satz auf den Punkt.
Danke für Ihren Verstand
Diesen Satz würde ich gerne all den Menschen zurufen, die trotz aller Anstrengung und Belastung, vernünftig bleiben. Nach dem Post über Impfverweigerung als Meme im November habe ich viel über diejenigen nachgedacht, die diese Vernunft nicht aufbringen wollen oder können (in Deutschlandfunk-Kultur habe ich die These genauer erläutert). Und ich habe darüber nachgedacht, wie Verstand (und vermutlich auch Verständnis) unserer Aufmerksamkeit folgt. Nur das, was wir beachten, können wir auch für bedeutsam halten.
Als am 15. Dezember in München Menschen gegen die Corona-Maßnahmen im Rahmen einer nicht genehmigten Demonstration auf die Straße gingen, bekamen sie dafür sehr viel Aufmerksamkeit. Es waren offenbar 3500 Menschen, die dort Impfverweigerung als politisches Signal deuteten. Während die 3500 da spazierten, ich habe es im Impfdashboard nachgeschaut, wurden 3500 Menschen geimpft – innerhalb von fünf Minuten. Und in den nächsten fünf Minuten wieder 3500 Menschen. Den ganzen Tag lang. 1,5 Millionen Impfdosen wurden an diesem 15. Dezember verabreicht. Ich finde diese Zahl beeindruckend – auch weil sie viel weniger Aufmerksamkeit bekam als die Demonstrierenden. Dabei müsste man doch die Impfung auch als politische Signal interpretieren, wenn die Verweigerung eines ist.
Danke für Ihren Verstand
Der Bayerische Rundfunk hat in diesem Instagram-Post die Anzahl von demonstrierenden und geboosterten Menschen in Bayern in ein anschauliches Verhältnis gesetzt. „Danke für Ihren Verstand“, heißt für mich in diesem Zusammenhang die Relation nicht aus den Augen zu verlieren. „Danke für Ihren Verstand“ bedeutet, auch die Aufmerksamkeit angemessen zu verteilen – und zwischen bedeutsam und weniger bedeutsam zu unterscheiden: „Da marschieren alternative Esoterikfans und Linke Schulter an Schulter mit Rechtsradikalen“, analysiert die Psychaterin Heidi Kastner und fährt fort: „Sie brüllen „Freiheit“ und sind so verrannt, dass sie nicht einmal eine Sekunde darüber nachdenken, was Freiheit in einem demokratischen System bedeutet.“
Kastner hat – und damit sind wir beim Gegenteil vom Verstand – ein bemerkenswertes Buch über Dummheit geschrieben und dazu einige lesenswerte Interviews gegeben (hier in der SZ, hier in Die Zeit). Im Gespräch mit dem Standard definiert sie Dummheit so: „Dumm meint, ignorant zu sein, unglaublich selbstsicher oder nur „bei sich“ zu sein, wie es so schön heißt heutzutage, es bedeutet das Ausblenden von Verantwortungen, dass man keine Informationen vor Entscheidungsfindungen einholt, selbstzentriert und selbstherrlich zu sein, kein Gefühl dafür zu haben, dass man als Teil eines Ganzen auf der Welt ist und das Ganze mitbedenken muss, wenn man Entscheidungen trifft.“
Danke für Ihren Verstand heißt in diesem Sinn also auch, nicht nur „ganz bei sich“ zu sein, sondern Verantwortung zu übernehmen, die soziale Interaktion einzubeziehen, vielleicht sogar solidarisch zu sein. Im SZ-Gespräch sagt Kastner: „Dumme Menschen verstehen sich nicht als Teil eines Gefüges, für sie kommen immer nur die eigenen Belange an erster Stelle.“
Ein wichtiger Schutz vor Dummheit ist nach Kastners Analyse die (Selbst-)Reflektion und die Fähigkeit zur Entpörung. Als Teil der Persönlichkeitsentwicklung solle man sich die Fähigkeit aneigenen, Emotionen zu definieren, zu hinterfragen und auch zu kontrollieren. Was passiert, wenn die eigenen Emotionen alles überlagern, konnte man zu Beginn des Jahres am Beispiel von Elizabeth aus Knoxville sehen, die ständig ungerecht behandelt wurde – sogar als sie das Kapitol stürmen wollte.
Sich selbst kontinuierlich als Opfer der Umstände zu sehen, das ständig ungerecht behandelt wird, ist kein Ausdruck ausgeprägter Selbstreflektion. Wer sein Handeln einzig auf das Ungerecht!-Gefühl begründet, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, im Sinne Kastners dumm zu handeln.
Wenn es dann zu einer Radikalisierung kommt, hilft vermutlich auch kein Appell an den Verstand, so fasst Heidi Kastner am Ende des Standard-Gesprächs zusammen. Denn Menschen, die an Verschwörungsmythen glauben und für diese auf die Straße gehen, „wollen ja nicht Fakten abgleichen, sondern recht haben“, sagt die Psychaterin. „Da braucht man nicht diskutieren, das ist sinnlos.“
Auch warnt sie davor, ein falsche Form der Toleranz denjenigen gegenüber zu üben, die sich auf diese Weise radikalisieren: „Dummheit ist aber auch eine völlig fehlverstandene Toleranz, die meint, man müsse alles gelten lassen. Das muss man nicht. Man muss auch nicht jede Meinung wertschätzen. Alles verstehen bedeutet bekanntlich, alles zu verzeihen – was W. S. Maugham als Mentalität des Teufels bezeichnet hat. Man muss sich positionieren und überlegen, warum man sich positioniert. Es reicht nicht zu sagen, dass das viele andere auch machen.“
Danke für Ihren Verstand!
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Dieser Text stammt aus dem monatlichen Newsletter Digitale Notizen, in dem ich mich immer wieder mit dem Thema Streitkultur und Social Media befasse – zum Beispiel: „Ich mag Twitter“ (November 2021) „Ungerecht!“ (Januar 2021) „Die Meinungsmodenschau“ (November 2020), „Die Nazis werden uns das Internet wegnehmen“ (März 2020), „Die Empörung der anderen“ (Februar 2020), „Weniger Recht haben müssen“ (November 2018), „Fünf Fitness-Übungen für Demokratie“ (Juli 2018) „Freiheit zum Andersdenken“ (Juli 2017), „Streiten lernen – für ein besseres Internet“ (Januar 2017).
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