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Die Netzkulturcharts sind ein völlig subjektives Ranking netzkultureller Phänomene, die ich auffällig finde. Sie erscheinen monatlich als Teil meines Newsletter „Digitale Notizen“ und umfassen besondere Accounts, Memes und Ideen, die ihren Ursprung im Netz haben, sich mit dem Internet befassen bzw. so nur im Netz aufkommen können. Der Begriff „Netzkultur“ ist dabei bewusst offen und der zeitliche Bezug kann schlicht daran liegen, dass mir dieses Phänomen erst in dem Monat aufgefallen ist. Die Charts aus den Vormonaten stehen hier.
Vorschläge gerne per Mail an mich oder auf Twitter @dvg oder Instagram @dvg mit dem Hashtag #netzkulturcharts.
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Platz 1: Kate Bush „Running Up The Hill“ 🆕
Nachdem Kate Bush zu Beginn des Monats mit ihrem Song „Running Up The Hill“ dank der Verwendung in der Netflix-Serie „Stranger Things“ erstmals in die US-Charts eingestiegen war, hat sie gerade eben gleich drei Chart-Rekorde in England gebrochen: Vor 44 Jahren stand die Sängerin letztmals an der Spitze der britischen Charts. Einen derart langen Zeitraum hatte es zwischen zwei Spitzenplätzen noch nie gegeben. Sie ist zudem die älteste Sängerin an der Spitze der britischen Charts und noch nie zuvor hat ein Lied so lange von seiner Veröffentlichung bis zur Chartsspitze gebraucht: 37 Jahre. Auch in den Tiktok-Charts platziert sich der Song weit oben.
Grund für diese Rekorde sind eine geschickte Marketing-Strategie der Netflix-Serie sowie die „accelerated decline“-Klausel in den Regeln der britischen Hitparade, die der Guardian so erklärt: „So while a new song earns one “sale” for every 100 streams, older songs need to be streamed 200 times before a single “sale” is counted.“
Oliver Kaever kommt im Spiegel mit Blick auf den Song zu dem Schluss: „Eigentlich schade, dass er die Luftnummer »Stranger Things« brauchte, um wiederentdeckt zu werden.“
Platz 2: Jiggle Jiggle, Louis Theroux ⬇️
Im New York Times-Porträt nennt Louis Theroux die Geschichte des Jiggle-Jiggle-Hits “a baffling 21st century example of just the weirdness of the world that we live in” – und für mich ist sie weiterhin eine der schönsten Popstorys des Sommers, deshalb hält sie sich weiter oben in den Charts. Denn es gibt scheinbar nur eine Person weltweit, die unter dem Hype um den Autotune-Schnipsel leidet: Therouxs 14jähriger Sohn. “‘Why is my dad, the most cringe guy in the universe, everywhere on TikTok?’” Mr. Theroux said, giving voice to his son’s reaction.“
Den meisten anderen Tiktok-Nutzer:innen scheint es jedoch anders zu gehen als Theroux Junior. Sie mögen den Song so sehr, dass sie mittlerweile sogar eine langsame Version auf der Harfe nutzen oder wie DJ Horizon in diesem kleinen Tiktok-Clip vom now playing-Festival in Indonesien, das Publikum damit begeistern. Das Beispiel ist auch deshalb Netzkulturcharts-relevant, weil es den „Wait for it“ (zu deutsch: „Schau bis zum Ende“)-Aufruf enthält, mit dessen Hilfe Tiktok-Clips ihre langfristige Sichtbarkeit erhöhen wollen.
Platz 3: Thomas Mann Daily 🆕
Im Frühjahr 2019 zeigte das Projekt „Ich Eisner“ wie Geschichte durch soziale Medien lebendig werden kann. Die Botschaften des ersten bayerischen Ministerpräsidenten, die zeitversetzt genau 100 Jahre nach der Revolution im Freistaat verschickt wurden, bekamen ein durchweg positives Echo. Dass der Twitter-Account Thomas Mann Daily nun seit einer Weile etwas Vergleichbares anbietet, ist also nicht besonders originell, aber trotzdem großartig. @DailyMann twittert Notizen aus den Tagebüchern des Literaturnobelpreis-Trägers, die jeweils an dem Tag notiert wurden. Die Einträge sind nicht chronologisch, sondern nur datumspassend. Das ist aber dennoch äußerst reizvoll, weil ich mich jedes Mal wieder frage: Wie hätte Thomas Mann genau diese Beobachtung heute notiert?
Platz 4: Tiktok-Bingo 🆕
Wie funktionieren eigentlich deutsche Tiktok-Clips? Der Tiktok-User @derbimon hat für die Reichweiten- und Interaktions-Tricks von Influencer:innen ein Bingo erstellt, das er auf seinem Account mit Hilfe der Duett-Funktion durchspielt. Regungslos schaut er sich die Clips an und spielt dabei mit „OMG!“-Floskeln und „Macht das Plus weg“-Aufrufen Bingo. Das ist nicht nur sehr lustig, sondern auch lehrreich, weil er damit wiederkehrende Muster offenlegt. Deshalb: macht das Plus weg bei @derbimon und folgt ihm für den zweiten Teil.
Platz 5: Luksan Wunder – Nationalhymnen-Missverstehen 🆕
Richtiges Verstehen und vor allem das richtige Aussprechen sind seit jeher ein relevantes Thema für Luksan Wunder (ich habe darüber ausführlich im meinen Essay im Deutschlandfunk gesprochen). Diesen Monat nun hat der Account ein neues Feld für das große Missverstehen-Thema geöffnet: Nationalhymnen. Endlich hört mal wer richtig hin und verrät, dass die italienische Nationalhymen mit den Worten „Der Starbucks in Parma“ beginnt. Falls sich das merkwürdig liest, bitte unbedingt hier die Luksan-Wunder-Übersetzung anschauen. Sie zählt zum Lustigsten, was ich im Juni im Netz gesehen habe.
Besondere Erwähnung:
Dass man mit dall-e mini Bilder generieren kann, wissen eh alle, oder? Hier hat der Spiegel drüber geschrieben. Die FAZ hat unterdessen einen eigenen Tiktok-Kanal gestartet, Twitter testet eine Entpörungsbremse für aufgebrachte Tweet-Schreiber:innen – schreibt Ryan Broderick. Ich würde es einen Entpörungsversuch nennen – und frage mich, was die Woke Szene davon hält (Hintergrund hier im Tagesspiegel)
Falls jemand plant, Rückblick-Retro-Posts anzufertigen ohne dabei allzu melancholisch zu werden: Der beschleunigte Abba-Song Angle Eyes liegt derzeit als „Angleseyes Sped up“ unter zahlreichen Clips, die Retro-Charmen versprühen.
Wie kommst du in Zukunft an einen Job? Unternehmen bewerben sich bei dir! Genau das hat Tiktokerin @lalaleluuistcool im April vorgeschlagen. In diesem Video schminkt sie sich und fordert Unternehmen auf, sich bei ihr zu bewerben – damit sie deren „Tiktok-Mensch“ wird. Heute hat sie nun eine Auflösungs-Video gepostet, in dem sie ankündigt, künftig Tiktoks für Edeka zu machen.
Nachtrag zu Thema Tiktok und (Fake-)Viralhits (siehe Mai-Charts): Bei OMR gibt es einen guten Überblicks-Artikel zum Thema. Und zum Abschluss ein Song, den Jax über Victorias Secret geschrieben hat:
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Die Netzkulturcharts sind eine subjektive Rubrik aus meines Newsletter „Digitale Notizen“. Mehr über Netzkultur in meinem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“. Die Platzierungen der Vormonate sind hier nachzulesen.
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