Plötzlich stehe ich im Olympiadorf in einem der Zimmer, in dem die Athlethinnen und Athleten wohnen. Ich bin durch einen sehr schlichten grauen Gang gelaufen und habe jetzt einen Holzschrank rechts und links ein Metallbett vor mir. Unter der Matraze liegt ein zusammengerolltes Poster der Olympischen Spiele 1972. Die israelischen Sportler, die in diesen Zimmern wohnten, hatten sich diese Olympia-Plakate als Andenken gekauft. Wenig später werden sie Opfer eines Anschlags, der als Olympia-Attentat in die Geschichte eingeht.
50 Jahre liegen die Olympische Spiele und das Attentat in diesen Tagen zurück. Die Stadt München erinnert an diese bedeutsamen Tage im Sommer 1972 mit zahlreichen Veranstaltungen. Auf dem Marienplatz steht ein riesiger Plastik-Dackel – Waldi, das Maskottchen der Spiele.
Eine besondere Form der Erinnerung, die gleichzeitig Ausblick auf die Zukunft ist, hat der Bayerische Rundfunk mit der Social-VR-Anwendung „München 72“ geschaffen. VR ist die Abkürzung für virtuelle Realität und in der gehe ich gerade mit wackligen Beinen vorwärts – auf dem obersten Stockwerk des Olympiaturms des Jahres 1972. Das Design der virtuellen Umgebung, die das Team vom BR kreiert hat (ich bin mit einigen persönlich bekannt), ist technisch auf der Plattform VR-Chat Zuhause, die für viele (mich eingeschlossen) sehr nach Zukunft klingt. Gestalterisch fühlt sich diese virtuelle Umgebung aber ein wenig so an, als stamme sie aus dem Jahr 1972 – eine Umkleide, die so wirkt als würden sich tatsächlich die Olympia-Athleth:innen hier umziehen, die man auf integrierten Archivaufnahmen des BR auch in Aktion sehen kann.
Ein erstaunlicher Spagat ist dabei gelungen zwischen der Dokumenation der 50 Jahre zurückliegenden Olympia-Zeit einerseits und den Möglichkeiten der Zukunft andererseits. Ich bewege mich in solchen VR-Welten stets mit leichtem Schwindel – das liegt ganz aktuell daran, dass mir die Grafik sehr glaubhaft das Gefühl vermittelt von der Aussichtsplattform des Olympiaturms (182 Meter) nach unten zu schauen. Wer hier Höhenangst empfinden, weiß was der Begriff „immersiv“ bedeutet – alle anderen können es unter dem Schlagwort Motion Sickness nachlesen.
Grundsätzlich spüre ich in VR-Anwendungen wie diesem Paradabeispiel vom BR immer eine leichte Überforderung, weil sie zeigen, welche Optionen in immersiver Technik liegen – wie hier Game-Kultur (echte Gamer:innen würden sich weniger behäbig nach dem virtuellen Radiogerät bücken als ich auf dem Bild), Unterhaltung und Information zu einer neuen Form der Wissens-Vermittelung verschmelzen. Das ist beeindruckend und aufgrund der fundierten Recherche und des umfangreichen Archivmaterials im Fall von München 72 auch beeindruckend aktuell. Der Titel des Projekts lautet „eine begehbare Dokumentation in VR“ und ich werde ab sofort immer an diesen Projekt denken – wenn irgendwo irgendwer entweder völlig übertrieben begeistert oder übertrieben pessimistisch über ein Metaverse, Web3 oder anderen virtuelle Welten spricht.