Die gute Nachricht zu Beginn: Die Debatte ums Gendern ist entschieden. Über die Frage, ob das generische Maskulinum eingesetzt oder durch einen Stern, ein Doppelpunkt oder möglichst viele „und“-Kopplungen ersetzt werden soll, muss nicht mehr gestritten werden!
Die Lösung findet, wer nicht nur gegendert, sondern auch die Perspektive geändert hat – und anfängt digital zu denken, also beginnend auf der Seite des Publikums. Statt auf der Seite der Publizierenden nach der einen Lösung zu suchen, findet die Lösung wer das Publikum ermächtigt, viele Antworten zu geben. Die Leser:innen werden in naher Zukunft entscheiden, welche Variante sie bevorzugen. Wie in diesem SZ-Text zum Thema händisch vorgeführt, werden in wenigen Jahren technische Lösungen zur Verfügung stehen, die Texte automatisch in die Form bringen, die das Publikum wünscht. (Das Prinzip dahinter nenne ich „Das Ende des Durchschnitts“)
Wer heute Browser-Erweiterungen für Fremdsprachen nutzt, kennt diese Ansätze bereits: Automatische Übersetzungs-Software bereitet den Text per Mausklick in der Form auf, die Nutzer:innen wünschen. Digitales Denken beginnt auf Publikumsseite – und in Bezug auf die unnötige Gender-Aufregung endet es auch dort. (Symbolbild: Unsplash)
Sorry, da muss ich korrigieren: für Wichtigtuer:innen. pic.twitter.com/BA8v2S86c6
— Ralf Heimann (@ralfheimann) August 2, 2022
Bis es soweit ist, wird es aber noch ein paar Tage geben, die so laufen wie der gestrige Tag: Kurz nacheinander kam ich da in Kontakt mit zwei Wortmeldungen zum Thema, die einen offenbar tiefen gesellschaftlichen Graben zeigen (der bei genauerer Betrachtung aber gar nicht mehr existiert). Erst meldete sich auf der Website der Bild-Zeitung der Sprachlehrer Wolf Schneider mit der Erkenntnis zu Wort:
„Gendern ist für Wichtigtuer“
Seine zentralen Argumente lauten: 1. Gendern gefällt ihm nicht. 2. Es besteht ein sprachlicher Unterschied, „zwischen dem natürlichen und dem grammatischen Geschlecht“. Um diesen zu illustrieren, wählt er ausgerechnet den Begriff „Weib“, der im Deutschen sächlich ist. Das mag grammatikalisch richtig sein, stilvoll ist es in jedem Fall nicht.
Schneiders Schimpfen bekam weite Aufmerksamkeit und wurde von der Bild-Zeitung durch Agentur-Meldungen getragen. Leider meist ohne die Erwähnung einer zweiten Einlassung zum Thema, die gestern öffentlich gemacht wurde. In einer Pressemitteilung des Leibniz-Institut für Deutsche Sprache heißt es zum gleichen Thema
Der Rückzug des generischen Maskulinums, in der Anrede, in Funktionsbezeichnungen, in Gesetzestexten und in vielen anderen Kontexten ist aber insgesamt ein kontinuierlicher Prozess, der durch die Emanzipationsbestrebungen der Frauenbewegung und später zusätzlich von der LGBTQIA+-Community angestoßen wurde und sich seit gut 30 Jahren auch in sprachpolitisch motivierten Veränderungen des sprachlichen Usus zeigt. Diese Art von Sprachwandel ist nichts Ungewöhnliches, denn Sprachnormen – wie soziale Normen allgemein – sind wertebezogen. Genauso wie die Sprache selbst wandeln sich dementsprechend auch die sprachlichen Normen und damit die Frage, was „gut“ und „richtig“ ist, kontinuierlich.
In dem etwas versöhnlicheren und deutlich elaborierteren Text werden die Argumente der Lesbarkeit (in Wahrheit kein Problem) und die vermeintliche Debatte um die so genannte Freiheit der Sprache eingeordnet, mit einer erstaunlichen Erkenntnis:
Die sprachliche Freiheit sollte uns ein hohes Gut sein. Die Forderung beispielsweise, der öffentlich-rechtliche Rundfunk müsse das Gendern unterlassen, läuft diesem Freiheitsgedanken gerade zuwider.
Anders forumliert: Alle, die bei dem Thema für Freiheit eintreten und gegen Verbote, sollten aufhören, gegen Vorschläge zum Gendern zu kämpfen. Oder in Form einer Bild-Zeitungs-Schlagzeile: „Gender-Gegner missachten die Freiheit der Sprache“
In der Pressesmitteilung ist es weniger plakativ formuliert:
„Wir müssen aber im Moment mit unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten leben, bis sich in der Sprachgemeinschaft mehr einheitliche Schreib- und Sprechgewohnheiten etabliert haben“, so Lobin. „Dabei sollten wir akzeptieren, mit Sprachformen konfrontiert zu werden, die nicht die sind, die wir selber präferieren. Dies ist eine Form von Toleranz, die man in einer pluralistischen Gesellschaft erwarten können sollte“, ergänzt Müller-Spitzer. Für einzelne Sprachformen zu werben, sei natürlich legitim, aber eine gegenseitige Offenheit trotzdem notwendig.