Du hast mich zum Nachdenken gebracht: der Argument-Inspiration-Test (Digitale März Notizen)


Dieser Text ist Teil der März-Folge meines monatlichen Newsletters „Digitale Notizen“, den man hier kostenlos abonnieren kann. Das Beitragsbild oben stammt von unsplash


Von Ingrid Brodnig habe ich heute den Begriff „intellectual humility“ gelernt. Als intellektuelle Bescheidenheit beschreibt sie in ihrem empfehlenswerten Buch „Einspruch“ die Fähigkeit, nicht immer alles schon zu wissen: „Weil ich von vornherein die Möglichkeit einräume, dass ich mich irren könnte, bleibe ich freier im Denken.“

Was für ein starker Satz! Darin steckt nicht nur die Weiterentwicklung dessen, was man früher mal als Fehlerkultur durch die Dörfer trieb. Der Satz beschreibt auch eine Schlussfolgerung aus dem größten Privileg der freien Gesellschaft: die eigene Meinung ändern zu dürfen!

Um der Meinungsänderung nicht nur ein besseres Image zu geben, sondern um sie täglich zu trainieren, möchte ich eine neue Maßeinheit für Diskussionen vorschlagen: den Argument-Inspiration-Test! Aufbauend auf der Idee des ideologischen Turing-Tests (den wir hier bei der SZ mal auf der Bühne getestet haben) setzt der Argument-Inspiration-Test am Ende einer Debatte an. Bei dem Test beantworten die Diskutant:innen eine einfache Frage: Welches Argument in dieser Diskussion hat mich inspiriert?

Die Frage zielt darauf ab, Debatten eine Richtung zu geben. Einen Ausweg aus dem Diskussions-Dilemma, dass sich beide Seiten lediglich über die Richtigkeit der eigenen Ansicht in Kenntnis setzen. Das reicht nicht um eine konstruktive Debatte im 21. Jahrhundert zu führen. Wer besser streiten lernen will, kann bei sich selbst beginnen und fortan mit einem anderen Ziel streiten als „recht haben“. Das beste Ziel für einen Streit: eine neue Perspektive kennenlernen. Die Welt auf eine Weise sehen (lernen), die vorher unbekannt war. Das heißt nicht, dass man diese Perspektive teilt oder gar richtig findet, es heißt aber zu verstehen, wie es sich anfühlt in diesen Schuhen zu gehen.

Das beste Ende einer Debatte ist ja nicht, dass die eine Seite am Recht hat. Das beste Ende einer Debatte ist, dass beide Seiten sagen können: So habe ich das noch nie gesehen. Dass sie etwas hinzu lernen, dass sie schlauer sind als vorher.

Great minds don’t think alike„, schreibt Adam Grant im Guardian, „they challenge each other to think again. The clearest sign of intellectual chemistry isn’t agreeing with someone. It’s enjoying your disagreements with them. Harmony is a pleasing arrangement of different sounds, not the same ones. Creative tension can make beautiful music.

Im vergangenen Jahr hat eine Harvard-Studie ausgerechnet eine Bier-Werbung als wichtigen Beitrag zur Demokratie-Förderung gelobt (Mehr in den Netzkulturcharts). In dem Spot treffen je zwei Menschen mit gegensätzlichen politischen Ansichten aufeinander – und werden am Ende eingeladen, ein Bier zusammen zu trinken. Trotz aller der Differenzen. Ich finde den Spot toll und ich mag auch Bier, aber ich glaube es gibt eine Sache, die noch wichtiger als ein gemeinsames Biertrinken: Menschlichkeit und die Offenheit auf anderen einzugehen.

Deshalb möchte ich für die nächste Debatte, an der ich teilnehme im Sinne einer offenen Gesellschaft und der intellektuellen Bescheidenheit die Frage stellen: Welche Inspiration haben dir die Argumente der Gegenseite gebracht?


Dieser Text stammt aus dem monatlichen Newsletter Digitale Notizen, in dem ich mich immer wieder mit dem Thema Streitkultur und Social Media befasse – zum Beispiel: Die beste Werbung für Demokratie (Februar 2023) Die Glut-Theorie der öffentlichen Debatte (Juni 2022), „Die Anderen anders sein lassen“ (Mai 2022), „Danke für Ihren Verstand“ (Januar 2022) „Ich mag Twitter“ (November 2021) „Ungerecht!“ (Januar 2021) „Die Meinungsmodenschau“ (November 2020), „Die Nazis werden uns das Internet wegnehmen“ (März 2020), „Die Empörung der anderen“ (Februar 2020), „Weniger Recht haben müssen“ (November 2018), „Fünf Fitness-Übungen für Demokratie“ (Juli 2018) „Freiheit zum Andersdenken“ (Juli 2017), „Streiten lernen – für ein besseres Internet“ (Januar 2017).

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