Was hat Literaturnobelpreisträger Thomas Mann genau an diesem 6. Januar in seinem Tagebuch notiert? Seit April 2022 postet der Twitter-Account @DailyMann täglich eine datumsgenaue Antwort. Die Tweets sind Auszüge aus dem Tagebuch und geben einen interessanten Einblick in das Leben des Schriftstellers. In Die Zeit schrieb dazu im Winter: „Hier wird das nichtig kleine und das ganze große Leiden an der Welt vertieft statt bekämpft, und ganz gleich, wie es einem auch gehen mag, einer ist mit Sicherheit noch schlechter drauf – Thomas Mann.“
Hinter dem Account steht Felix Lindner, Literaturwissenschaftler und Mann-Experte von der HU Berlin. Ich habe ihm ein paar Fragen zu dem Account, zu Thomas Mann und zu seinen Plänen gemailt.
Warum Thomas Mann auf Twitter? Das passt doch gar nicht zusammen ein Literaturnobelpreis-Träger und diese eher nicht als Hochkultur angesehene Kurz-Plattform…
Es gab keine strategische Entscheidung für ein Medium und gegen ein anderes. Twitter ist einer der Orte, an dem ich mich über Literatursachen verständige und Humoriges aus der Literaturgeschichte teile. Da war es dann nur natürlich, dass die Zitate auf Twitter laufen. Dass sie dort so gut funktionieren, hat mich dann aber auch überrascht.
In der Bio steht, dass Katia schreibt, weil Thomas die Tür geschlossen hat und Erika ordnet. Kannst Du die handelnden Personen für alle Nicht-Mann-Expert:innen mal vorstellen?
Ich hatte versucht, mir vorzustellen, wie eine historisch akkurate Twitter-Situation im Hause Mann abgelaufen wäre: Thomas Mann in seinem Arbeitszimmer, um das alle mit Pantoffeln schleichen, weil er auf Störungen so empfindlich reagiert hat; Katia Mann, seine Ehefrau, die sich um alles Organisatorische des Nobelpreisträger-Lebens gekümmert hat und also auch den Account als niedere, lästige Arbeit betreiben müsste; und schließlich Thomas Manns Lieblingskind Erika, die in seinen letzten Jahren als seine Lektorin und Nachlassverwalterin fungiert hat. Dass ich selbst in der Bio nicht auftauche, soll den Eindruck vermeiden, es handle sich bei den Zitaten um eine allzu subjektive Blütenlese eines mit seinem Gegenstand zu sehr sympathisierenden Lesers. Außerdem fand ich die Idee des Versteckspiels hübsch.
Es gab vorher schon einige historische Ticker-Formate, die Inhalte der Vergangenheit mit Hilfe von Twitter oder Messengern z.B. genau 100 Jahre später in die Gegenwart geholt haben. War das eine Inspiration für DailyMann?
Eine bewusste Inspiration gab es nicht. Ich hatte mich für meine Dissertation wieder einmal intensiver mit den Tagebüchern beschäftigt und war irgendwann so genervt von diesem endlosen peinlichen Selbstgespräch, dass ich es nicht mehr aushielt, damit allein zu sein. Also dachte ich: Ab auf Twitter damit. Müssen es halt alle lesen.
Durch die Tweets entsteht der Eindruck, Thomas Mann sei eine durchaus selbstmitleidige Person gewesen. Kannst du ihn mal ein wenig vorstellen für alle, die weder den Account noch die Tagebücher vollständig kennen?
Thomas Mann war weniger selbstmitleidig als sein ganzes Leben damit beschäftigt, die für ihn ideale Arbeitsstimmung herzustellen, in der nicht die kleinste Störquelle sein vorgenommenes Zwei-Seiten-Pensum gefährden konnte. Und störend konnte für ihn alles sein: falsch zubereitete Krabbensuppen, zu saurer O-Saft, nicht gehorchende Hunde und Kinder, seine Verdauung, die Schreibfeder, Haushälterinnen, die Liste ist unendlich. Solch grässlich strenges Regime geht dann natürlich mit einer Menge Unzufriedenheit einher, weil es sich einfach nicht realisieren lässt.
Hätte er, wenn es die technischen Möglichkeiten gegeben hätte, selbst getwittert?
Thomas Mann hätte sich eher beide Hände amputieren lassen, als zu twittern. Für ihn war jede Art von Befindlichkeit Privatsache. Das Privateste des Privaten ging als „Tagesrechenschaft“, wie er es nannte, in die Tagebücher ein: sein Ort für Strenge und Aufrichtigkeit mit sich selbst. Dass davon etwas nach draußen gelangt wäre, hätte ihn nicht nur PR-technisch, sondern auch persönlich auf Jahre ruiniert.
Aber er war sich doch beim Schreiben des Tagebuchs bewusst, dass es nach seinem Tod öffentlich würde, oder?
Ganz so einfach ist es nicht. Thomas Mann hat 1945 alte Tagebücher aus der Zeit vor 1933 in seinem kalifornischen Garten verbrannt. Dass er den Rest nicht auch vernichtet hat, als er noch konnte, mag daran liegen, dass er das Interesse (das auch 2023 nicht gerade groß ist) an ihnen unterschätzt hat und womöglich gedacht hat, was dort geschrieben steht, könne seinem sorgsam gepflegten Image als Goethe-Nachfolger nichts anhaben. Die Tagebücher lagen dann auch als Bündel auf dem Dachboden seines letzten Wohnortes am Zürichsee mit der Aufschrift „without any literary value“. Eine gewollte oder ungewollte Publikation der Tagebücher zu Lebzeiten wäre unvorstellbar gewesen. Man sieht das an einer abenteuerlichen Geschichte von 1933. Im Januar 1933, zum Zeitpunkt der Wahl Hitlers zum Reichskanzler, ist Thomas Mann gerade im schweizerischen Arosa und beauftragt seine Tochter Erika damit, die in seinem Wohnhaus in München liegenden Tagebücher schnellstmöglich und ungelesen in die Schweiz kommen zu lassen. Erika beauftragt einen Chauffeur damit, der sich dann allerdings als Spitzel herausstellt und die Tagebücher verkaufen will. Wir wissen nicht, was in den Tagebüchern stand, aber die Vorstellung, sie in den Händen von Nazis, also als Diffamierungsmittel zu sehen, hat Mann über Monate hinweg Bauchschmerzen bereitet. Am Ende kamen sie über Umwege dann doch wieder zu ihm.
Kannst du erklären, weshalb die Inhalte auf Twitter irgendwie anders wirken als wenn man sie in Gänze in einem gut gedruckten Buch liest?
Die auf Twitter gebotene Kürze schneidet die Zitate sachte aus ihrem Zusammenhang und dampft gewissermaßen die Unlust an der Welt, die in den Tagebüchern immer anwesend ist, auf ihre Essenz ein. Das ist gar keine Verzerrung, es steht ja alles geschrieben. Die Komik des Ganzen liegt wohl in der Auswahl: einer Art Kompendium der schlechten Laune und der Arbeitsverhinderungen, die so redundant und unwahrscheinlich ist, dass sie sonst niemand so veröffentlichen würde. Ich werde oft gefragt, ob der Account ein Bot sei, aber ich habe weder die Fähigkeiten noch die Lust dazu, etwas zu programmieren. Ein Bot, der aus den Tagebüchern Sätze auswählen würde, würde vielleicht alle paar Monate etwas Lustiges zu schreiben haben.
Du bist seit April 2022 aktiv, wieviel Material hat Thomas Mann geliefert, damit du noch twittern kannst?
Die Tagebücher sind in 10 Bänden mit insgesamt über 9000 Druckseiten erschienen. Sie reichen von 1918 bis 1921, dann noch einmal von 1933 bis 1955, seinem Todesjahr. Da kommt also einiges zusammen, aber insgesamt nur wenig, was sich auch für Twitter eignen würde. Am 2. April 2023, also genau ein Jahr nach dem ersten Tweet, soll dann auch Schluss sein. Ich möchte nicht, dass sich das Projekt überlebt. Und so hat jede:r, der/die mag, einen kleinen Thomas-Mann-Kalender voller schlechter Laune auf Twitter. Ist doch schön, vielleicht.
Der Account @DailyMann ist hier auf Twitter – und war schon mehrfach in den Netzkulturcharts hier im Blog, in denen ich mich monatlich mit besonderen Phänomemen der Netzkultur befasse.