Tiktok-Ban, Oddly Satisfying, #corecore, Willow-Project, Creed 3 im Kino (Netzkulturcharts März 2023)


Was geht online? Die Netzkulturcharts sind meine völlig subjektive Antwort auf diese Frage. Ich liste darin Phänomeme auf, die ich inspirierend, interessant oder bemerkenswert finde. Sie erscheinen als kostenfreier monatlicher Newsletter. Sie erscheinen wegen der Space-Karen-Entscheidung, Revue einzustellen nur noch als Bestandteil meines Digitale Notizen-Newsletters.

Der Begriff „Netzkultur“ ist dabei bewusst offen und der zeitliche Bezug kann schlicht daran liegen, dass mir dieses Phänomen erst in dem Monat aufgefallen ist. Die Charts aus den Vormonaten stehen hier.


1. Tiktok-Ban und Kongress-Anhörung

So populär war sicher noch keine politische Debatte zuvor auf Tiktok: Clips von der Anhörung vor dem US-Kongress zum so genannten Tiktok-Ban fluten seit vergangener Woche die For you pages auf Tiktok. Auch vorher unpolitische oder an Politik wenig interessierte Nutzer:innen äußern sich zu der Befragung von Shou Zi Chew, der nicht nur Tiktok-CEO, sondern seit dem Auftritt auch Netzkulturstar ist (immerhin hat er eine eigene Know-Your-Meme-Seite). Ich habe hier einige Clips ausgewählt, in denen die Wut, Erstaunen und Entsetzen, über die mangelnde Digitalkompetenz und der erkennbare Meta-Lobbyeinfluss in der Befragung zum Ausdruck kommen. Dahinter treten die tatsächlichen, sachliche begründeten Zweifel an Tiktok, die Markus Beckedahl z.B. auch hier äußert, ein wenig in den Hintergrund.

2. Oddly Satisfying

Tim Parker arbeitet als Gärtner im Westen Sydneys. Internationalen Ruhm hat der Australier aber mit einer Variante der Gartenarbeit erlangt, die den Aspekt des Kindness-Contents mit einem anderen Trend verbindet: Tim the Lawn Mover Man mäht kostenfrei Rasen und dokumentiert diesen Vorgang auf seinen Social-Media-Kanälen. Das hat etwas erstaunlich Befreiendes, nicht nur weil er die Gartenarbeit ohne Gegenleistung erbringt, sondern vor allem, weil die Gärten danach so aufräumt und ordentlich aussehen, das ist „seltsam befriedigend“. So lässt sich der Trend übersetzen, den nicht nur der australische Gärtner bedient: Oddly Satisfying sind auch Accounts wie @unclogging_drains (der dokumentiert, wie Abflüsse gereinigt werden) oder @mountainrugcleaning (der Teppich-Reinigung filmt). In der taz kommt Leonie Gubela deshalb zu dem Schluss, der Oddly Satisfying-Trend habe etwas „generell Heilsames. Während man so daliegt in der eigenen Wohnung, die mal wieder nass durchgewischt werden könnte, wird wenigstens irgendwo auf der Welt ein Teppich hingebungsvoll hochdruckgereinigt.

3. #corecore

Seit einigen Wochen will ich hier schon über den Kunst- und Netzkultur-Trend Corecore schreiben. Dieser Text von Magdalena Pulz bei Zeitonline bietet jetzt einen guten Anlass. Sie schreibt: „Meistens sind die Corecore-Videos zusammengesetzt aus verschiedenen Schnipseln anderer popkultureller Werke, darunter sind Social-Media-Videos, Filme, Serien, Podcastaufzeichnungen oder Ausschnitte aus journalistischen Beiträgen. Thematisch befassen sich die Corecore-Videos vor allem mit Gesellschaftskritik, etwa mit falschen Schönheitsidealen, Sexismus auf Social Media oder Kapitalismuskritik.Bei Monopol klingt das dann so: „#corecore. Der Kern des Kerns, wörtlich übersetzt. Während Normcore noch die Intensivierung der Negation verkörperte, ist #corecore die Intensivierung der Intensivierung. Nur wieder neuer Meta-Meme-Quatsch? Ganz im Gegenteil. #corecore ist zutiefst avantgardistisch. Nicht nur ist die Rückbesinnung auf den Kern des Kernbewusstseins selbst verwandt mit der Idee der Phänomenologie, ist es vor allem der politische Avantgardismus, der im #corecore-Trend schlummert.“

4. Willow-Project

Mitte des Monats hat die US-Regierung ein Ölförderprojekt der Firma ConocoPhillips im Norden Alaskas genehmigt: 600 Millionen Barrel Öl sollen in den kommenden dreißig Jahren an drei Bohrstellen gefördert werden. Das so genannten Willow-Project hat einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. „Ich habe noch nie so viele Videos, so viele Kommentare und Erwähnungen zu einem Klimathema in den sozialen Medien gesehen“, zitiert die Washington Post die Wissenschaftlerin Alaina Wood, die als @thegarbagequeen selbst aktiv ist auf Tiktok. Dass auch deutsche Nutzer:innen aktiv wurden, geht u.a. auch auf das Engagement von @josischreibt_ zurück, die als eine der ersten auf das Projekt aufmerksam gemacht hat.

5. Aufregung für Aufmerksamkeit

Was war das los bei der Vorstellung von „Creed 3“ im Kino? Wer so fragt, bekommt Aufmerksamkeit. Muss ja was los gewesen sein, sonst gäbs die Frage ja nicht – und auch die ganzen Filme zum Thema nicht. Oder?

Man ist sich nicht ganz sicher. Sicher ist jedoch wie dieses Aufregung für Aufmerksamkeit-Prinzip funktioniert: Nach dem „Rauch und Feuer“-Mechanismus, der Erwartungen weckt, selbst wenn gar nichts brennt – habe hier ein wenig drüber geschrieben.


🎵 Ungebetene Ohrwürmer* des Monats 🎵

  1. Miguel „Sure Thing“ (Sped up)
  2. Studio Schmitt & Marti Fischer: „Singo Zamperoni“
  3. Mae Stephens „If We Ever Broke Up“
  4. Miley Cyrus „Flowers“
  5. Taylor Swift „Anti-Hero“

* in dem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ nutze ich Ohrwürmer als Metapher um die Wirkung von Memes zu beschreiben. Deshalb ist es nur konsequent, sie nicht nur metaphorisch, sondern eins-zu-eins zu nehmen.


Besondere Erwähnung

Dass das Netz voll ist von Stiches, habe ich bereits erwähnt. Diese Form von direkter Antwort auf andere Videos ist durch Tiktok äußerst beliebt geworden. Doch neben der technischen Form der Replik ist damit auch eine kulturelle Fähigkeit sichtbar geworden: das beiläufige Sprechen. Möglich wird dies durch das möglichst offensichtliche Essen während des Filmens. Nutzer:innen filmen ihre Stich-Antworten erstaunlich häufig während sie selbst essen – um zum Ausdruck zu bringen, dass sie jetzt nur äußerst beiläufig auf das jeweilige Thema antworten können.

Adam Krueger verdient eine besondere Erwähnung. Der Meterologe arbeitet beim Fernsehsender CW39 in Houston und ist als Weatheradam auf Tiktok aktiv. Dort dokumentiert er, was im Fernsehen vielleicht nicht sofort auffällt: Adam Krueger referenziert in seiner Vorhersage regelmäßig Popsongs. Ein schönes Spiel, das dazu führt, dass in den Wetteraussichten für Houston plötzlich Eminem-Zitate auftauchen. In einem Interview erklärt Adam Krueger: „Die Herausforderung, die ich mir selbst stelle, besteht darin, es so einzubauen, dass man, wenn man zuschaut, wahrscheinlich gar nicht merkt, dass ich mich auf etwas beziehe, außer man weiß, dass ich es versuche.“

Dass ich hier nichts über Thomas G. Hornauer schreibe, ist übrigens Absicht. Mehr als die Zusammenfassung von Walulis interessiert mich an dem Thema nicht.

Übrigens endet dieser Tage meine Kolumne beim Goethe-Institut zum Thema Internet-Sprache – alle sechs Folgen gibt es hier in der Übersicht.