Was geht online? Die Netzkulturcharts sind meine völlig subjektive Antwort auf diese Frage. Ich liste darin Phänomeme auf, die ich inspirierend, interessant oder bemerkenswert finde. Sie sind regelmäßiger Bestandteil meines Digitale Notizen-Newsletters.
Der Begriff „Netzkultur“ ist dabei bewusst offen und der zeitliche Bezug kann schlicht daran liegen, dass mir dieses Phänomen erst in dem Monat aufgefallen ist. Die Charts aus den Vormonaten stehen hier.
Mehr Netzkultur gibt es auch in dem Instagram-Account @kommemetare
Platz 1: Ein Land, in dem für immer Frühling ist
Sofie Aspacher kommt aus Backnag im Rems-Murr-Kreis. Unter dem Namen Soffie macht sie Musik. Als sie im vergangenen Jahr beim Nachwuchsfestival des Backnanger Straßenfests auftrat, gab sie der Lokalzeitung ein Interview. Es geht um musikalische Vorbilder und man erfährt, dass sie ihr Masterstudium der Amerikanistik in Berlin beginnt. Über ihren größten Erfolg steht nichts in dem Interview, denn der kam erst in diesem Januar: am 8.1. postete sie auf Tiktok die Demoversion des Songs „Ein Land, in dem für immer Frühling ist“. Über 3,5 Millionen Views hat der Clip seitdem allein auf Tiktok bekommen. Bei Instagram sind es nochmal 2,8 Millionen. Und eigentlich müsste man auch die anderen Clips mitzählen, in denen sie Noten und Chords zum Song veröffentlicht – denn das Lied trifft einen Nerv. Es handelt von einem freundlichen, weltoffenen Land, das gastfreundlich ist und nicht ausgrenzend. Das Land, in dem für immer Frühling ist, ist das Land, für das in diesem Januar unglaublich viele Menschen auf die Straße gegangen sind.
Faszinierend an dem Song ist aber nicht nur seine Aktualität, sondern vor allem seine digitale Vernetzung. Nutzer:innen schreiben ihn fort, ergänzen und diskutieren Strophen und partizipieren an ihm. Und das alles, ohne dass das Lied offiziell erschienen ist. Die Veröffentlichung von „Das Land, in dem für immer Frühling ist“, für den 2. Februar angekündigt.
Platz 2: Wir sind im Internet – natürlich mögen wir Netzkulturcharts
Die Social-Media-Kolleginnen von der Zeit haben den Trend schon im vergangenen Dezember wunderbar umgesetzt. Aber in diesem Januar ist er wirklich überall angekommen, der „Wir sind xxx, natürlich“-Hype. Es geht um Clips, die Klischees und Selbstbezichtigungen ins Bild setzen: Wichtig dabei: die Videos zeigen stets Menschen, die laufen und sich dabei filmen. Sie beginnen ihre Sätze immer mit „Wir sind…“ oder „Wir haben…“ und beenden sie mit typischen Klischees, die sich mit „natürlich“ anschließen.
Es geht wie so oft in Social-Media um Gruppenzugehörigkeit und Identität. In diesem konkreten Fall wird beides mit einem ironischen Twist gespielt, in dem die Akteur:innen die Zuschreibungen – natürlich – auf sich beziehen und ironisieren.
Das Meme gibt es schon seit einer ganzen Weile hat im Januar auch das deutschsprachige Web erreicht – und sogar einen ersten Threads-Trend geprägt. Deshalb auch ein besonderes Lob an die Lehrer:innen vom Bert-Brecht-Gymnasium in Dortmund, die eine sehr gute eigene Variante erstellt haben.
Platz 3: Danger Dan auf Tiktok
Die beiden Magier von Siegfried & Joy haben in diesem Monat einen Clip gemeinsam mit Danger Dan auf Tiktktok gepostet – und nur dort. Denn dort hat dessen Song „Von der Kunstfreiheit gedeckt“ einen Popularitätsschub erhalten – als Folge der schon an der Chart-Spitze erwähnten Demos gegen rechts. Zeitgleich versuchen rechte Accounts gegen den Sound vorzugehen – bzw. gehen Accounts an, die das Lied nutzen um sich gegen rechts zu positionieren.
Darauf reagieren Siegfried & Joy und treten (wie schon häufiger zuvor auch) für Vielfalt und gegen Ausgrenzung ein. Dafür und für den Aktualitätsschub für Danger Dan gibt es Platz 3 in den Januar-Charts (dass Siegfried & Joy häufiger Gast in diesen Charts sind, steht hier)
Platz 4: Kevin James reagiert aufs Kevin James Meme
Kevin James war in der Show von Jimmy Fallon zu Besuch – und erzählte die Geschichte, die den Schauspieler der Serie „King of Queens“ vergangenes Jahr webbekannt machte. Ein Stockfoto von ihm wurde memefiziert (Netzkulturcharts berichtete). Im Gespräch mit Jimmy Fallon erläutert James wie er davon erfuhr – aber vor allem geht er sehr selbstironisch mit seinem ungeplanten neuen Ruhm um. Zum Beispiel stellt er gemeinsam mit Jimmy Fallon das Motiv nochmal nach (was eine schöne Kopie der Kopie Version ist) und behauptet: „oh mein Gott, ich stecke in dem Meme fest“.
Platz 5: Oompa Loompa Reaktion
Der Song „Oompa Loompa“ allein hätte schon eine Platzierung in den Charts verdient. Er hat nicht nur durch die aktuelle Verwendung im Film „Wonka“ eine erstaunliche Karriere hingelegt.
Die Interpretation von Hugh Grant ist aber auch zu einem beachtenswerten Meme geworden – wie diese beiden Beispiele von Kommemetare beweisen. Stets geht es um eine wortlose Kommemetierung die durch den Tanz und die Zeile „jetzt wird es tragisch, hören Sie zu“ erfolgt.
Diese Form der Kommemetierung steht beispielhaft für eine neue Generation von Memes, die nur durch die Re-Kombination von Kontexten eine Bewertung oder Einordnung gibt. Gerade in den hochformatigen Clips gibt es dafür zahlreiche Beispiele.
🎵 Ungebetene Ohrwürmer* des Monats 🎵
- Soffie „Ein Land, in dem für immer Frühling ist“
- Danger Dan „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“
- Jain: „Makeba„
- Michael Marcagi „Scared to Start“
- Connor Price „Trendsetter„
* in dem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ nutze ich Ohrwürmer als Metapher um die Wirkung von Memes zu beschreiben. Deshalb ist es nur konsequent, sie nicht nur metaphorisch, sondern eins-zu-eins zu nehmen.
Besondere Erwähnung
Die taz kommemetiert – auf dem Instagram-Account der taz werden aktuelle Geschehnisse seit ein paar Tagen auch in Form von Memes kommentiert. Ich nutze dafür den Begriff „kommemetieren“ und freue mich, dass die taz das jetzt auch umsetzt.
Die New York Times geht der Frage nach wie die hochformatige Vermarktung von Kultur auf Tiktok die Kultur selbst verändert.
Zapp widmet sich ausführlich dem Phänomen „Kindness Content“ (Hintergrund hier in den Netzkulturcharts)
In BrandEins gibt es ein Interview mit Thomas Laschyk vom Volksverpetzer.
Deepfake-Bilder, die mit Künstlicher Intelligenz erzeugt wurden, sorgen auf X für Ärger. Seit Elon Musk dort das Sagen hat, wurde die Content-Moderation deutlich zurückgefahren. Deshalb konnte die folgende Meldung überhaupt so große Aufmerksamkeit erlangen. Das muss man vorweg schicken, denn die meisten Menschen vergessen es, weil sie zwei Schlagworte enthält, die offenbar sofort für Verwirrung sorgen: KI und Porno. Es geht um Taylor Swift Fakes und KI
Mehr zum Thema Netzkultur gibt es in dem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ und im monatlichen Newsletter ,Digitale Notizen‘. Im Account @komMEMEtare poste ich zudem auf Instagram aktuelle Memes und Hintergründe