Das Schlimmste hat immer Recht – das Muster des Worst-Case-Chronozentrismus (Digitale Februar Notizen)


Dieser Text ist Teil der Februar-Folge meines monatlichen Newsletters „Digitale Notizen“, der immer zum Ende eines Monats erscheint. Hier kannst du ihn kostenlos abonnieren. (Foto: Unsplash)


Niemals gegen das eigene Team tippen. Wer an Fußball-Tippspielen teilnimmt, kennt diese Regel. Wer Fan einer Mannschaft ist, tippt nicht auf eine Niederlage des eigenen Teams – auch wenn die Chancen auf einen Sieg noch so gering sind (und damit Tippspiel-Punkte verloren gehen). Ein Grundsatz, der nicht nur für die Vorhersage von Fußball-Ergebnissen gilt.

Ich bin Fan der Demokratie, der offenen, gleichberechtigten Gesellschaft, der Erde, einer gesunden Natur und der Artenvielfalt. Und ich werde den Eindruck nicht los, dass nicht wenige andere Fans im Umgang mit den Herausforderungen, denen diese guten Dinge gerade ausgesetzt sind, die eingangs zitierte Tippspiel-Regel vergessen haben. Vor dem Hintergrund zahlreicher schlechter Nachrichten und wachsender Krisen verfallen sie in eine Art Sicherheits-Pessimismus. Sie sehen überall den Untergang und benennen ihn laut – anklagend, warnend und stets aus der guten Absicht auf Probleme hinzweisen, die real sind und die auch ich sehe.

Vielleicht handelt es sich bei dieser Klage um eine Form des defensiven Pessimismus, der Menschen hilft, mit ihren Ängsten umzugehen: wer das Schlechteste annimmt, behält wenigstens Recht, wenn es eintritt. Oder einfacher formuliert: Das Schlimmste hat immer Recht (und wenn nicht dann immerhin ein schöneres Ergebnis).
Ganz sicher setzt diese öffentlich vorgetragene Haltung aber den Ton für einen Zeitgeist, der spätestens seit dem Beginn der Corona-Pandemie anhält und am besten mit dem Titel Worst-Case-Chronozentrismus beschrieben ist: Alles schrecklich, alles bedrohlich und ein weiterer Beweis für die selbst erzählte Geschichte des Niedergangs, die gerade ihr historisch schlimmstes Kapitel aufgeschlagen hat.

Wir sehen uns beständig mit historischen Entscheidungen konfrontiert, stehen vor Schicksalwahlen und erleben allgegenwärtige Überforderung – so dass die New York Times die Lage wie folgt zusammenfasst:

Wohin man auch blickt, die Führer der freien Welt scheinen mit der Komplexität des modernen Lebens überfordert zu sein, sie sind verwirrt von den Forderungen spezieller Interessengruppen und neigen zu autokratischen Methoden im Umgang mit ihren Dilemmas.

Ich habe dafür auch keine Lösung, aber mit dem Klick auf den NYT-Link eine neue Perspektive anzubieten: der zitierte Text steht nämlich nicht in einer aktuellen Ausgabe, sondern im Archiv der New York Times. Die Analyse der schrecklichen Gegenwart stammt nicht aus unseren anstrengenden Tagen des Jahres 2025, sondern aus dem Sommer 1975.

Dass uns das überrascht, liegt an einem blinden Fleck, der den Blick auf die schreckliche Gegenwart trübt: wir leiden an Chronozentrismus. Mit dem Phänomen wird die Überzeugung beschrieben, dass die jeweils gegenwärtige Situation eine besondere sei, die nur mit Superlativen zu fassen ist. Tom Standage spricht von dem „Egoismus, dass die eigene Generation an der Schwelle zur Geschichte steht“.

Das heißt nicht, dass diese Annahme falsch sein muss. Es heißt nicht, dass wir nicht tatsächlich in herausfordernden, schwierigen Zeiten leben. Es heißt aber, dass das nicht ganz so neu und einzigartig ist, wie es sich vielleicht anfühlt. Es heißt, dass wir vielleicht einem Muster unterliegen, das sehr eng verwandt ist mit der Idee, früher sei alles besser gewesen. Denn auch die Nostalgie speist sich aus der gleichen Voreingenommenheit, die Douglas Adams schon Ende der 1990er Jahre beschrieben hat:Was da ist, wenn wir auf die Welt kommen, nehmen wir als völlig normal hin. Was entsteht bis wir etwa 30 Jahre alt werden, sehen wir als Chance und alles, was nach unserem 30 Lebensjahr entsteht, ist ein Niedergang der Kultur.

Wer so denkt, erkennt quasi konsequent in den gegenwärtigen Herausforderungen die schwersten, bedrohlichsten, härtesten aller Zeiten. Aber führt dieser Eindruck zur Motivation, die Probleme anzugehen und vielleicht sogar zu der Aussicht, sie tatsächlich zu bewältigen?

Ich erkenne im Gegenteil einen Zeitgeist, dessen pessimistischer Chronozentrismus noch befeuert wird von dem, was Mark Fisher als „slow cancellation of the future“ bezeichnet hat – also eine Abkehr vom Glauben an ein gestaltbares Projekt, eine gemeinsame Verbesserung. Was in dem berühmten Zitat mündet, dass es einfacher sei, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus.

Dieser blinde Fleck des kapitalistischen Realismus (so der Buchtitel von Mark Fisher auf deutsch), jener der Vergangenheitsüberhöhung und der beschriebene Chronozentrismus trüben den Blick auf ein neues Zukunftsbild. Diese drei Formen der Voreingenommenheit zu erkennen, heißt nicht, sie auch zu überwinden, aber es ermöglicht vielleicht die Erinnerung an die eingangs zitierte Regel, wenn das nächste Mal jemand zur Klage ansetzt: Wer Fan der Demokratie ist, sollten nicht gegen sie tippen. Denn Demokratie ist kein abgeschlossener Zustand, sondern ein Prozess. Wie ein Muskel muss sie trainiert werden – und jede Trainingseinheit ist anstrengend. Vielleicht sogar die schwerste.


Mehr zum Thema hier im Blog, aus dem immer am Ende des Monats ein Newsletter verschickt wird, über den Leser:innen sehr gut sprechen: