Flut an Kindheitserinnerungen

Vielleicht ist Facebook tatsächlich so etwas wie eine digitale Klassenfahrt. Alle sitzen auf ihren Zimmern, tauschen Informationen und kleine Geschichten über die Mädchen und Jungen im gegenüber liegenden Gebäudeteil. Dann kommt jemand auf eine absurde Idee. Sagen wir er schlägt folgendes vor:

Ersetzt zwischen dem 12. und 18. November euer Profilbild auf Facebook durch einen Comic-Helden aus eurer Kindheit. Ladet auch eure Freunde dazu ein.
Ziel des Spiels: Keine „Menschenbilder“ mehr auf Facebook zu sehen, dafür eine richtige Flut an Kindheitserinnerungen!

Alle finden die Idee lustig. Alle sammeln, was sie finden können und machen mit.

Dann dauert es ein paar Minuten, bis aus dem Nebenzimmer eine gegenteilige Information kommt. Sie handelt von einem aufgeregten Herbergsvater, der mit einem Elektroschocker durchs Gebäude läuft oder von Lehrern, die geweckt wurden und plötzlich Mitschüler in Nachtkleidung auf den weiten Weg nach Hause geschickt haben (wo ein Schulverweis droht). Der Überbringer dieser Nachricht ist meist etwas außer Atem und aus seinem Frottee-Schlafanzug ragt oben eine roter Kopf heraus. Aus dem spricht es:

Habe gerade erfahren, dass die Comicbilder nicht öffentlich verwendet werden dürfen. Die ersten Abmahnungen seien schon unterwegs. Könnte teuer werden. Also wieder rausdamit.

Vielleicht ruft er sogar noch „Bitte weiterleiten“ und rennt dann ins nächste Zimmer, wo er ähnliche Verwirrung stiftet wie im vorherigen.

Nach ein paar Minuten hat sich die erste Aufregung gelegt. Jemand merkt an, dass das ja nicht stimmen kann. Schließlich würden viel zu viele Leute mitmachen, da müsste der Herbergsvater schon alle Klassen auf einmal nach Hause schicken. Das sei ja rein organisatorisch gar nicht zu machen. Leichtes Aufatmen, aber eine Unsicherheit bleibt.

Nicht falsch verstehen: Ich möchte mich nicht über Herbergsleitung, Klassenreisen oder gar über Menschen in Frottee-Nachtwäsche lustig machen. Ich frage mich jedoch, was die angesprochene Reaktion auf die aktuell laufende Facebook-Comic-Helden-Aktion über unser Verständnis vom Urheberrecht sagt. So wie mit diesem Recht derzeit umgegangen wird, ist es sicher nicht die Magna Carta der Informationszeitalters, sondern ein merkwürdiges Schreckgespenst, das vergleichbar dem unberechenbaren Herbergsvater beständig als Drohkulisse eingesetzt werden kann (vor ein paar Wochen verkleidete sich dieser als Hamburger Rechtsanwalt und verschickte Spam-Abmahnungen). Man hat den Eindruck, das Urheberrecht sei ein Regelwerk, das vergleichbar dem unkalkulierbaren Wertesystem eines autoritären Lehrers, nur schwer zu durchschauen ist – und vor allem nicht in Einklang zu bringen ist mit dem, was alle tun. Denn sich im Netz zu bewegen und zu tun, was dort ja irgendwie alle machen, ist für dieses Urheberrecht ständig an der Grenze zum Schulverweis und – auf jeden Fall mal nicht erlaubt.

Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass wir eine Reform des Urheberrechts brauchen: diese Flut an Kindheitserinnerung liefert sie. Natürlich darf man die Comic-Bilder eigentlich nicht öffentlich nutzen (man sollte stets nur jene Bilder hochladen, an denen man Rechte hält). Aber genauso natürlich denkt jeder, der einen Pumuckl, einen Wickie oder eine Biene Maia hochgeladen hat, nicht, dass er oder sie gerade etwas veröffentlicht hat (geschweige denn, ein Urheberrecht verletzt haben könnte). Das liegt daran, dass wir mit und in Facebook einen Raum geschaffen haben, der öffentlich ist, sich aber sehr privat anfühlt. Es liegt aber auch daran, dass wir in diesem Raum mit rechtlichen Instrumenten unterwegs sind, die nicht immer ganz tauglich sind.

Die (mittlerweile veränderte) Futurezone erklärt in einem Artikel, dass die Comic-Invasion auf Facebook rechtswidrig sei und mischt direkt noch weitere Angstszenarien über das Netzwerk mit ein (Datensammlung, Verleumdung, böse Menschen). Die wirklich wichtige Frage aber stellt weder der Text noch einer der modernen Comic-Helden: Warum hier eine so große Lücke klafft zwischen dem, was Menschen tun und dem, was und wie rechtlich geregelt ist?

Vielleicht ist Facebook eben doch eine digitale Klassenfahrt.

Update: Auch Bild.de berichtet über die Aktion – und Gizmodo hat sogar die vermeintliche Quelle der Idee entdeckt.

Update 2: Die Rechtsanwälte Henning Krieg, Jens Ferner und Christian Solmecke äußern sich zum Thema.

11 Kommentare

um den, wirklich, schönen vergleich noch zu ende zu führen kann man in diesem fall auch gerne anmerken, das die futurezone sich in diesem fall wie schlaubi schlumpf aufführt, der bei allem spass immer daneben steht und ruft:

„das ist aber verboten! man darf in seinem schlumpf keine schlümpfe schlumpfen! das ist gegen das schlumpfheberrecht! sagt auch papa schlumpf!“

;-)

absolut. und: traditionell ist schlaubi schlumpf nicht sonderlich beliebt auf klassenfahrten

Mir macht das ganze ehrlich gesagt etwas Angst.. Warum? Nunja wenn dann am Ende alle Wissen das es rein rechtlich gesehen ein Verstoß gegen das Urheberrecht war und niemand was unternommen hat sinkt die Hemmschwelle und viele werden denken, das der Staat/Anwälte ja garkeine Macht haben und über ein entsprechendes Szenario will ich ehrlich gesagt nich nachdenken, weil dann solche tollen Parteien(wir wissen alle welche) nur wieder bekräftigt werden, dass das Internet ja doch zensiert werden „muss“….

schön beobachtet.

ein anderer gedanke ist mir letztens durch den kopf bzgl. urheberrecht. was wäre, wenn petrus ein urheberrecht auf die bibel gehabt hätte ;) die bibel ist doch eins der weit verbreitesten bücher, wenn nicht das weit verbreiteste. das wär noch ein reicher mann geworden ;)

Mh naja wär sicherlich etwas schwer jemanden die Tantiemen zu überweisen der nicht unter uns weilt ;)

Aber Urheberrecht wird wohl auch wirklich nicht mehr lange existieren wenn es so weitergeht..
Ich mein, wenn ich nicht wenigstens ein paar Rechte an meinem Geistigen Eigentum behalten kann, wo soll das hinführen..?

Obwohl ich in dem Szenario auch grad was Gutes gefunden habe: Bosse von Major Labels werden keinen Job mehr haben, die ganzen sog. „Popikonen“ (damit meine ich die achsotollen Casting-Stars, die schneller „verbraucht“ werden als sie gecastet ;) ) sind weg und Kunst wird wieder Kunst und das auch noch umsonst :) (soll keiner sagen das würde keiner machen, ich veröffentliche auch alles für umme ;) )

Genau so ist es. Sehr gut beobachtet. Ich schwanke auch zwischen Schmunzeln und Ermahnung zur Vernunft ;-)
Ob wir jetzt schon Spielverderber sind?

Vonwegen „wenn dann am Ende alle Wissen das es rein rechtlich gesehen ein Verstoß gegen das Urheberrecht war“. Was das angeht bin ich mir nicht sicher.

Die aktion ist nicht-komperziell und zeitlich begrenzt und meiner Meinung nach als KUNST also insgesamt ein Kunstwerk zu betrachten. In einem gewissen Rahmen ist es da OK auf die Werke anderer zurück zu greifen.
Nur wo da die Grenze liegt und ob die Aktion nah dran, genau drauf oder schon darüber hinweg ist, wage ich nicht zu beurteilen.

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