Was geht online? Die Netzkulturcharts sind meine völlig subjektive Antwort auf diese Frage. Ich liste darin Phänomeme auf, die ich inspirierend, interessant oder bemerkenswert finde. Sie sind regelmäßiger Bestandteil meines Digitale Notizen-Newsletters.
Der Begriff „Netzkultur“ ist dabei bewusst offen und der zeitliche Bezug kann schlicht daran liegen, dass mir dieses Phänomen erst in dem Monat aufgefallen ist. Die Charts aus den Vormonaten stehen hier.
Mehr Netzkultur gibt es auch in dem Instagram-Account @kommemetare
Platz 1: Der Anzeigenhauptmeister
Noch vor wenigen Wochen hätte niemand verstanden, was in dieser Folge von Late Night Berlin passiert: Klaas und Jakob laufen in Warnkleidung durch Berlin und gehen einem „bizarren Hobby“ (Off-Text) nach. Sie schreiben Falschparker auf.
Im März 2024 ist es eine Referenz auf das vermutlich bekannteste Internet-Phänomen des Monats: Der Anzeigenhauptmeister hat sogar eine eigene Wikipedia-Seite. Dabei handelt die Geschichte von dem jungen Mann, der mit Warnkleidung, Fahrradhelm und Polzifi-Schild am Rad durch Deutschland schiebt, viel eher von klassischen Medien als vom Internet: „Wie Spiegel-TV einen 18-Jährigen zur Hetze freigab“ heißt der Kommentar auf Übermedien auch richtigerweise – oder wie es Tristan Herold auf Threads formuliert:
Der Anzeigenhauptmeister wird heimlich fotografiert, dazu wird auf Twitter geschrieben, wo er sich gerade befindet. Die Drachenlord-Dynamik, die nach und nach ein Leben zerstört hat, wiederholt sich gerade 1:1.
Tristan Herold Threads
Platz 2: #ReclaimTiktok
Ende des Monats meldete die Tagesschau: „Tiktok drosselt Reichweite von AfD-Politiker Krah„. Aufmerksamkeit außerhalb des Tiktok-Universums hatten die zum Teil verschwörungstheoretischen Clips durch einen Beitrag des ZDF-Magazin bekommen. Parallel dazu startete Magdalena „Maggy“ Hess gemeinsam mit Klima-Aktivistinnen die Aktion #ReclaimTiktok – mit dem Ziel, Reichweite zurückzuerobern und die Plattform mit eigenem Content zu fluten.
Kurz nach der Tagesschau-Meldung postete Maggy ein Dankeschön – untermalt mit dem viralen Flippers-Sounds „Wir sagen dankeschöne“.
Platz 3: Digitale Reality-Shows
Amanda Hess beschreibt die “Who TF Did I Marry?!?,” von Reesa Teesa in ihrem Text in der New York Times als „eine Flucht aus meinem eigenen häuslichen Leben und hörte sie über Kopfhörer, während ich die Wäsche zusammenlegte und hinter meinen Kindern aufräumte. Nach vielen Videos hatte ich das Gefühl, eine quälend ehrliche Version einer Immobilien-Reality-Show zu sehen, in der die potenzielle Käuferin durch die Schritte des Hauskaufs geführt wird, nur um dann festzustellen, dass das Geschäft für sie unerschwinglich ist.“ In 50 Folgen erzählt Reesa Teesa von ihrer Hochzeit mit einem Hochstapler – und hat damit nicht nur das Interesse auf Tiktok geweckt, sondern auch ein Symbol für eine neue Form von Reality-Content auf Social-Media geschaffen. Dass Menschen direkt in die Kamera blickend eine Geschichte erzählen, ist Teil eines Trends, der in Abgrenzung zu hochproduzierten Clips steht: Vermeintlich realistische Geschichten von Menschen wie du und ich, die Identifikation und aber auch Spannung erzeugen.
Platz 4: Mr. Beast
Es gibt vermutlich nur wenige öffentliche Figuren, an denen man den Einfluss der Netzkultur auf die Unterhaltungs-Industrie in Gänze besser illustrieren kann, als an Jimmy Donaldson. Donaldson ist der Chef von 500 Angestellten – wovon allein 200 in seiner Snack-Firma Feastables arbeiten. Dennoch wird Jimmy Donaldson stets als „Creator“ vorgestellt, dessen Videos das Time-Magazin unlängst als Filme von Dingen beschrieb, „die ein phantasievoller 9-jähriger Junge ausprobieren würde, wenn er etwa eine Milliarde Dollar hätte.“ Diese Assoziation mit Mr. Beast (unter dem Namen ist er hier in den Netzkulturcharts auch schon erwähnt worden) ist aber mindestens verwirrend. Denn in zu Beast ist auch eine gute Illustration dessen, wie Öffentlichkeit(en) sich gerade verändern.
Platz 5: Willy’s Chocolate Experience in Glasgow
Bei einigen Netz-Phänomenen entsteht der phänomenale Anteil nicht so sehr durch die Sache selbst, sondern durch die Wahrnehmung und Rezeption. Im Fall von Willy’s Chocolate Experience ist es genau so: die Sache selbst ist nämlich so belanglos, dass sie niemals einen Wikipedia-Eintrag bekommen hätte. Erst die übertriebene (durch KI erstellte) Verkaufs-Lüge hat aus der Wonka-Ausstellung in Glasgow ein Netzphänomen gemacht. Denn „After it was discovered that the event was held in a sparsely decorated warehouse, many customers complained, and the police were called to the venue. The event went viral on the Internet and attracted worldwide media attention. The event drew comparisons to the 2008 Lapland New Forest controversy, the 2014 Tumblr fan convention DashCon, and Billy McFarland’s 2017 Fyre Festival.„
🎵 Ungebetene Ohrwürmer* des Monats 🎵
- Djo „End of Beginning“
- 01099 „Küssen“
- Soffie „Ein Land, in dem für immer Frühling ist“
- Michael Marcagi „Scared to Start“
- Connor Price „Trendsetter„
* in dem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ nutze ich Ohrwürmer als Metapher um die Wirkung von Memes zu beschreiben. Deshalb ist es nur konsequent, sie nicht nur metaphorisch, sondern eins-zu-eins zu nehmen.
Besondere Erwähnung
Dass das rosa Trikot der Herren-Nationalmannschaft eine gute Illustration für die neue Art der Öffentlichkeit(en) ist, habe ich hier bereits beschrieben.
Der Original-Sound ist bereits vier Jahre alt – und hat sogar einen Eintrag bei Know your meme. Aber German Cola Kid ist in den vergangenen Wochen so häufig als Lip-Sync-Vorlage aufgetaucht, dass er einen eigene Erwähnung verdient hat: „Meine Mama hat mir einfach erlaubt, dass ich Cola trinken darf. Wie cool ist das bitte„
Ich mag den Bohnigen Wachmacher – den neuen Podcast von Dax Werner und Moritz Hürtgen.
Der irische Creator TADHG Fleming hat seinen Vater in einen grünen Ballon gesteckt.
Magdalena Pulz schreibt über Paloma Diamond.
Das Europäische Parlament ist auf Tiktok (Hintergrund bei hier) – und überall wird über einen Tiktok-Ban in den USA diskutiert. Der sehr geschätzte Johannes Kuhn widmet sich im empfehlenswerten Internet-Observatorium nicht nur dieser Frage.
Lachen verbindet: dieser Clip von der Kölner Domplatte ist nicht nur wegen der Lieblingszauberer Siegfried & Joy super, sondern vor allem auch wegen Paco, der so sympathisch lacht.
Das Museum Wiesbaden hat Cem A. interviewt, den Macher hinter dem Instagram-Account freeze_magazine
Aidan Walker betreibt einen Meme-Newsletter, den man hier abonnieren kann.
Im sehr guten Newsletter „Zwischen zwei und vier“ wird das neue Revolerheld-Album vorgestellt, das digital nicht existiert.
Mitte April erscheint „Schön war’s, aber nicht nochmal“ von Andre Herrmann – ein Buch, das im Netz geboren wurde: durch die sehr lustigen Tweets zu bzw. über eine Reise mit seinen Eltern
Mehr zum Thema Netzkultur gibt es in dem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ und im monatlichen Newsletter ,Digitale Notizen‘. Im Account @komMEMEtare poste ich zudem auf Instagram aktuelle Memes und Hintergründe.