Besser warten: 24 Dinge, die wir von geduldig Wartenden lernen können (Digitale September Notizen)


Dieser Text ist Teil der September-Folge meines monatlichen Newsletters „Digitale Notizen“, den man hier kostenlos abonnieren kann – er ist mein Beitrag zu dem Buch „Schöner Warten“ von Warteberater Armin Nagel.


„Besser warten“ zu wollen ist ein ungewöhnlicher Wunsch. Die meisten Menschen wollen nicht besser warten, sondern besser nicht warten. Auf diese Weise auf die Welt zu schauen, kann also mindestens hilfreiche Perspektiven eröffnen.

„Besser warten“ ist aber mehr als der Zauber des Gegenteils. Warten ist eine Form des Ausdauersports. Es ist ein Trainingsprogramm für den eigenen Geduldmuskel. Um es zu erlernen, kann man sich also Sportlerinnen und Sportlern inspirieren lassen.

Ein Versuch übers Geduldtraining in 24 Schritten

  1. Niemand will warten. Wer besser warten will, nimmt bereits hier eine andere Perspektive ein. Der wichtigste Trick gut Wartender ist also: Warten reframen!
  2. Aus gegenteiliger Perspektive auf die Welt zu schauen, kann nicht nur glücklicher machen (siehe Paul Watzlawiks „Anleitung zum Unglücklichsein“), es ist auch der beste Weg, um auf neue Ideen zu kommen. Um das zu beschreiben, habe ich Watzlawik kopiert und eine „Anleitung zum Unkreativsein“ geschrieben.
  3. Niemand will unkreativ sein, deshalb hilft es, diese Perspektive bewusst einzunehmen. Es würde aber auch niemand von sich behaupten: „Ich habe zu viel Zeit.“ Wie der Imperativ zur Kreativität ist auch die Behauptung allgegenwärtig, im Stress zu sein und keine Zeit zu haben.
  4. Wer besser warten kann, nimmt jede Warte-Minute als Geschenk: „Endlich habe ich mal Zeit!“
  5. Besser wartende Menschen wissen: Zeit ist keine absolute Größe. Sie dehnt sich oder schrumpft nicht durch externe Einflüsse, sondern einzig durch unsere Perspektive auf ihren Verlauf.
  6. Es gibt also keine Lösung zum besseren Warten außerhalb unseres Kopfes. Wir entscheiden, ob wir gute oder schlechte Wartende sind. Niemand sonst.
  7. Der Vorsatz, „ich will besser warten“ ist also mehr als der erste Schritt zum erfolgreichen Geduldstraining. Es der Türöffner zu neuen Perspektiven.
  8. Warten heißt in der Gegenwart zu sein – gutes Warten heißt, gerne in der Gegenwart zu sein.
  9. Es geht also nicht um nichts. Wer Geduld trainiert, hat eine andere, eine aktivere Vorstellung davon als jene, die nur wollen, dass die Zeit schnell vergeht.
  10. „Geduld ist nicht passiv“, soll der Kampfkünstler Bruce Lee mal gesagt haben, „sie ist im Gegenteil geballte Kraft.“ Aus dieser Perspektive erwächst die Aufforderung: Kraft lässt sich trainieren, das muss auch für Geduld gelten.
  11. Auch hier liegt eine Parallele zum Lauftraining: Ausdauertraining beim Joggen ist ebenfalls mehr als der Wunsch, lediglich die Strecke von A nach B zurückzulegen.
  12. Wer Warten auf diese Weise betrachtet, sieht also nicht das große Nichts, das sich zwischen jetzt und dem Zeitpunkt eröffnet, auf den man wartet. Wer Warten auf diese Weise betrachtet, füllt diese leere Zeit mit eigenem, kraftvollem Inhalt.
  13. Wenn Geduld aber tatsächlich, wie ein Muskel ist heißt das aber auch: Nur Anstrengung führt zur Verbesserung.
  14. Jede wartende Minute ist also besser als eine nicht-gewartete Minute – denn sie trainiert die Geduld. Diese Perspektive ,reframed‘ also eine gewöhnliche Stunden-Verspätung bei einer Bahnfahrt zu: „Super, eine Stunde Geduldtraining!“
  15. Dass Geduld bitter ist, hat angeblich schon Aristoteles ganz ohne Bahnreise gesagt und ergänzt: „aber ihre Frucht ist süß.“ Das mag stimmen, aber gut Wartende schauen nicht auf die Belohnung, sondern nehmen die vermeintliche Bitterkeit als eigenes Ziel des Wartens an.
  16. Warten ist dann nicht mehr bitteres Nichtstun oder Ablenkung, sondern aktive Warte-Arbeit.
  17. Laufen ist auch nicht Bewegung und Rennen, sondern aktives Geduldtraining.
  18. „Ein begrenzter Fokus ist immer hilfreich. Die Regel der Bergsteiger lautet: ,Nicht nach unten schauen‘. Die Regel der Läufer lautet: ,Nicht nach oben schauen‘“, schreibt George Sheehan im Buch „This Running Life“ über die Perspektive beim Ausdauertraining: „Ein Blick nach oben und ich bin überwältigt von der Unermesslichkeit der Aufgabe. Die Aufmerksamkeit muss ganz nach innen gerichtet sein – auf die Überwachung des Schmerzes, die Korrektur der Form und das Leben in diesem kleinen Bereich. Ich kann nicht in der Zukunft leben, die auf der Spitze eines Hügels liegt.“ Das muss man zweimal lesen, um zu erkennen, er schreibt nicht nur übers Laufen oder über Lauftraining, er schreibt über die Perspektive auf besseres Warten.
  19. Besser wartende Menschen sind in Lage, auch schlechte Situationen nicht aus der Opferperspektive zu betrachten. Auch wenn ihnen übel mitgespielt wird – sie verharren nicht in dieser Perspektive. Sie spielen da nicht mit.
  20. Energie fließt auch beim Warten dorthin, wohin die Wartenden die Aufmerksamkeit richten.
  21. Wer besser wartet, schaut nicht auf das, was fehlt, sondern auf das, was da ist und entsteht.
  22. Am besten warten übrigens diejenigen, die sich selbst vergessen lassen, dass sie tun, was im klassischen Sinn als Warten beschrieben wird.
  23. Um wirklich gutes Warten zu beschreiben, bräuchten wir eigentlich einen anderen Begriff. Einen, der nicht negativ besetzt ist und nicht passiv. Einen, der nach Freude klingt und nach Selbstbestimmung.
  24. Was alle verbindet, die wirklich gut warten können: Sie haben ein selbstbestimmtes, man könnte fast sagen, aufgeklärtes Verhältnis zu ihrer eigenen Aufmerksamkeit. In diesem Sinne könnten man sagen, sie haben den Mut, sich ihrer eigenen Aufmerksamkeit zu bedienen – attendere aude!





Der Text stammt aus dem Buch „Schöner Warten“ und ist hier Teil meines monatlichen Newsletters „Digitale Notizen“, den man hier kostenlos abonnieren kann.

Der Text ist entstanden, weil ich beim Laufen gemerkt habe, dass Ausdauertraining und Gedultraining ergebnislos bleibt. Deshalb sollten wir Aufmerksamkeit auf unsere Aufmerksamkeit legen – z.B. über das Projekt „Wesentlich weniger“