Brian Eno, deine Aufmerksamkeit und das Ende des Durchschnitts

Ich wünsche mir ein Internet, das eine Art Gemeingut ist und nicht eine Reihe von abgegrenzten Lagern. Und ein Teil der Idee der Allmende ist eine Idee, die, glaube ich, die Menschen zu Beginn der Internetperiode begeisterte, nämlich die Idee der Interoperabilität, dass man etwas, das man hier gemacht hat, auch dort einsetzen kann und es trotzdem funktioniert. Nun, alles in Facebook und Instagram und so weiter versucht, das Gegenteil davon zu erreichen. Sie wollen dich an einem Ort halten, weil du dort das meiste Geld für sie verdienst. Solange die Sache also mit dem Profitmotiv verbunden ist – dem Profit nicht der Gesellschaft, sondern der Individuen, denen diese Plattformen gehören -, funktioniert es für mich nicht, und es wird nur schlimmer werden. Cory Doctorow nennt das „Enshittifizierung“. Ein großartiges Wort. Ich liebe dieses Wort.

Brian Eno im Interview mit Los Angeles Times

Ich möchte über Brian Eno sprechen.

Der Künstler wird in den kommenden Wochen in zahlreichen Medien auftauchen, weil eine Dokumentation über sein musikalisches und künstlerisches Leben erscheint. Wobei der Satz so nicht ganz stimmt. Denn „Eno – The Film“ erscheint nicht in einer Fassung, sondern in unzähligen unterschiedlichen Versionen.

Die New York Times beschreibt die Versionierung der Dokumentation so: „Der Film basiert auf einem codebasierten Entscheidungsbaum, der immer wieder einen neuen Weg einschlägt und für eine Software namens Brain One (ein Anagramm für Brian Eno) entwickelt wurde. Brain One, programmiert vom Künstler Brendan Dawes, erzeugt bei jedem Durchlauf des Algorithmus eine neue Version des Films. Dawes‘ System wählt aus einer Datenbank von 30 Stunden neuer Interviews mit Eno und 500 Stunden Filmmaterial aus dessen persönlichem Archiv aus und erstellt nach einem System von Regeln, die von den Filmemachern mit einem Code festgelegt wurden, einen neuen Film. Nach Angaben der Filmemacher gibt es 52 Quintillionen (also 52 Milliarden Milliarden) mögliche Kombinationen, was bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Brain One zwei exakte Kopien von „Eno“ erzeugt, so gering ist, dass sie praktisch gleich Null ist.

Es gibt zahlreiche Gründe, weshalb der Filmemacher Gary Hustwit genau diese Versionierung für dieses spezielle Projekt gewählt hat. Eine davon erklärt Eno im Interview mit BBC6 (man kann die ganze Sendung in der BBC-Soundsapp nachhören)

Erinnern ist eine schöpferische Tätigkeit. Wir erfinden unsere Geschichte ständig neu. Wir erzählen nicht einfach eine Geschichte. Jedes Mal, wenn wir sie erzählen, wählen wir eine andere aus. Manche Dinge, die vor zehn Jahren noch nicht wichtig waren, erscheinen plötzlich entscheidend. Jedes Mal, wenn wir über die Vergangenheit sprechen, erfinden wir sie neu, schreiben sie um.

Brian Eno in BBC6

Mich fasziniert an diesem Vorgehen vor allem die konsequente Umsetzung einer Idee, die ich „Das Ende des Durchschnitts“ genannt habe. Der Eno-Film produziert mit Hilfe der kopierenden Kopie erstaunlicher Weise zahllose Originale. Jede Vorführung schafft einen unkopierbaren Moment – und ist genau deshalb besonders interessant.

Auf der Website von Gary Hustwit kann man nachlesen, wann die Filme gezeigt werden.

Aber nicht nur die konkrete Umsetzung der Dokumentationen und der Umgang mit KI ist spannend. Das Projekt lädt auch dazu ein, sich wieder und/oder neu mit dem Werk von Brian Eno zu befassen – z.B. mit seiner Perspektive auf das Internet (siehe Zitat oben) oder mit seinen Thesen über Aufmerksamkeit.

In dem bereits zitierten BBC6-Gespräch sagt er zum Beispiel:

Es ist gut, wenn du dich daran erinnerst, was dir wirklich wichtig ist. Wo deine Aufmerksamkeit wirklich liegt. Denn deine Aufmerksamkeit ist dein wertvollstes Gut.
Ich glaube, viele Künstler versuchen, genau das herauszufinden: Was ist es, was ich wirklich mag? Das ist für mich die wichtigste Frage, die man sich im Leben stellen kann. Es klingt wie eine triviale Frage, aber in Wirklichkeit bedeutet sie Folgendes: Was ist mir wirklich wichtig?

Mir scheint genau darin der Gedanke der Aufklärung für das Zeitalter der Aufmerksamkeit zu liegen: Habe den Mut, dich deiner eigenen Aufmerksamkeit zu bedienen – deshalb habe ich jedenfalls das Minifesto „Wesentlich weniger“ gestartet – das auf tausend-sekunden.de zu lesen ist.