Was geht online? Die Netzkulturcharts sind meine völlig subjektive Antwort auf diese Frage. Ich liste darin Phänomeme auf, die ich inspirierend, interessant oder bemerkenswert finde. Sie erscheinen als kostenfreier monatlicher Newsletter. Sie erscheinen wegen der Space-Karen-Entscheidung Revue einzustellen nur noch als Bestandteil meines Digitale Notizen-Newsletters.
Der Begriff „Netzkultur“ ist dabei bewusst offen und der zeitliche Bezug kann schlicht daran liegen, dass mir dieses Phänomen erst in dem Monat aufgefallen ist. Die Charts aus den Vormonaten stehen hier.
Platz 1: Kindness-Content 🆕
Tu Gutes und zeige es! Nach dem Erfolg des Widerspruchs als Reichweitentreiber sehen wir seit Wochen den guten, höflichen, menschlichen Inhalt im Netz auf dem Vormarsch: Kindness Content stimuliert positive Emotionen und lädt dazu ein, ihn zu teilen. ,Wholesome‘ nannte das der Podcast Lakonisch Elegant Anfang des Jahres – und setzte damit den Startpunkt für einen Trend, der sich an Friseur:innen wie Victor Fontanez ablesen lässt, die kostenfreie Haarschnitte verschenken (und auf Tiktok verfilmen) oder die scheinbar zufällig gefilmten kleinen Alltagshilfen (wie hier ein Mann mit Angst vor Rolletreppen, dem ein kleiner Batman-Junge hilft), die das Gute im Menschen zeigen. Besonders eindrücklich hat dies der YouTuber MrBeast in diesem Monat mit dem Projekt „1000 Blind People See for The First Time“ gemacht. Das ist nicht nur sehr nett – sondern auch finanziell erfolgreich, weshalb im Netz die Nettigkeit nicht nur nett gefunden wird: But kindness content has also gotten pushback, as some viewers feel that people’s struggles are being exploited for financial gain. Berit Glanz hat das ganze in der FAS zusammengefasst.
Platz 2: „If We Ever Broke Up“ Mae Stephens 🆕
Die Zeile “If we ever broke up, I’ll never be sad, thinkin’ bout everything that we had if we ever broke up” war ein Tiktok-Ohrwurm bevor der Song, aus dem sie stammt überhaupt verfügbar war. Denn dieser ist erst in diesem Monat veröffentlicht worden – als jüngstes Beispiel für die Karriere-machende-Fähigkeit von Tiktok. Hauptdarstellerin dieses Mal: die 19-jährige Mae Stephens, die erst Tiktok-Ruhm und dann einen Plattenvertrag hatte. Die ehemalige Supermarkt-Mitarbeiterin aus Kettering, North Northamptonshire bringt es bereits auf über 15 Millionen-Streams mit ihrem 2,22 Minuten langen Song: „If We Ever Broke Up“
Platz 3: „Stone Maidens“ Tochter macht Vaters Buch Tiktok-berühmt 🆕
Tiktok-Ruhm gelingt aber natürlich nicht nur Musiker:innen wie Mae Stephens – man kann ihn auch (ganz im Sinne des Kindnes Content) anderen schenken: Der Tochter von Lloyd Devereux Richards, Anwalt aus Vermont, ist genau dies geglückt. Sie schenkte ihrem Vater Tiktok-Ruhm für dessen vorher nebenberuflich geschriebenen Thriller „Stone Maidens“. Sie veröffentlichte ein Tiktok über ihren Vater. Der Spiegel schreibt dazu: „Nach Veröffentlichung des Kurzvideos in der Social-Media-Plattform, das inzwischen (Stand Montagmittag) über 40 Millionen mal angesehen wurde, stieg der 2012 veröffentlichte Roman »Stone Maidens« in die Liste der meistverkauften Titel beim US-Versandhändler Amazon ein.“ Und die Vater-Tochter-Geschichte wurde überall weitererzählt – als Beispiel für die noch immer überraschende Macht der viralen Verbreitung.
Platz 4: Die Last-of-us-Panik-Attacke 🆕
In der sechsten Folge der US-Serie The Last of Us hat die Figur des Joel Miller eine Panik-Attacke. Gespielt wird Miller (und dessen Panik) von Pedro Pascal, der seit Ausstrahlung der Episode auch einen eigenen Eintrag bei Know Your Meme hat. Denn die Performance hat über die Serie hinaus Bedeutung erlangt: als Reaction-Motiv und Kommentar zur Gegenwart. Nach dem Prinzip der My-Reaction-When-Gifs wird das Bild als Reaktion auf aktuelle Ereignisse gepostet.
Platz 5: Everything Can Be an Album Cover 🆕
„Erstell‘ mit Handy kurz vor Deadline selber meine Cover“ singt rappt Ski Aggu (mehr zum Partysahne-Phänomen hier) in seinem Song „Broker“. Schaut man sich die Song-Cover des Berliners an, klingt das durchaus glaubwürdig. Hinzu kommt: Es kann ja alles ein Album-Cover sein, oder? Das jedenfalls behauptet ein populäres Meme, das in erster Linie eine sehr erfolgreiche Werbekampagne für die App CapCut ist, die ein Template anbietet, mit dem Nutzer:innen wie hier Kabby Lame alltägliche Aufnahmen in eine Cover-Illustration umbauen können.
🎶Ungebetene Ohrwürmer* des Monats🎶
1. Mae Stephens „If We Ever Broke Up“
2. Miley Cyrus „Flowers“
3. Georg Ezra „Green green gras“ (Sped)
4. Ski Aggu „Party Sahne“ (aber schneller)
5. Taylor Swift „Anti-Hero“
* in dem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ nutze ich Ohrwürmer als Metapher um die Wirkung von Memes zu beschreiben. Deshalb ist es nur konsequent, sie nicht nur metaphorisch, sondern eins-zu-eins zu nehmen.
Besondere Erwähnung
Der Satz „i was today years old“ als Einleitung für eine Erkenntnis, die schon lange bekannt, der sprechenden Person aber gerade erst zugänglich wurde, ist wie „macht das Plus weg“ eine der Sprachneuschöpfungen, die wir den sozialen Medien verdanken. Über einige davon darf ich seit Januar beim Goethe-Institut eine Sprachkolumne schreiben, die ersten Folgen stehen hier online.
Seit Monaten schon versuche ich @Wastarasagt und @Datschemaen in den Netzkulturcharts unterzubringen, aber stets kommt was Aktuelles dazwischen, deshalb heute mal ohne aktuellen Anlass eine lobende Erwähung für Tiktoxic (Tara) und die Handwerker-Stitches (Datsche). Das sind zwar völlig unterschiedliche Formate und deshalb auch nicht vergleichbar – aber sowohl Tara-Louise Wittwer als auch Marco Linstädt stehen für eine besondere deutschsprachige Form der Netzkultur, die hier auch mal erwähnt werden soll.
Kevin Bacon und seine Frau Kyra Sedgwick sind seit 35 Jahren verheiratet. In diesem Monat haben sie den Trennungssong „Flowers“ (siehe Januar-Charts) parodiert – und damit für viel virtuelle Aufmerksamkeit gesorgt. Denn es kommen auch schreiende Ziegen darin vor.
Bernie Sanders (Internetstar 2021) ist wieder da: als zufälliger Photobomber in einem Tiktok-Dance der Influencerin Taylor Champ.
Was ist eigentlich noch ernst gemeint und was ironisch? Der Begriff meta-cringe erweitert die ohnehin schon komplizierte Antwort auf diese Frage um einen Aspekt.
Der Diana-Account auf Tiktok, den ich vergangenes Jahr für seine Avocado-Aussprache gelobt habe, hat seinen Fokus geändert: Es ist jetzt eine Paar-Klischee-Account geworden.
Ist das Lucky-Girl-Syndrome sowas wie die weibliche Variante der Online-Business-Coaches, die Jan Böhmermann diese Woche zerlegt hat. Von wegen Mindset und so?