Dieser Text ist Teil der Oktober-Folge meines monatlichen Newsletters „Digitale Notizen“, den man hier kostenlos abonnieren kann. Die Frage, wie das Neue in die Welt kommt und warum das manchmal kompliziert ist, habe ich in meinem Buch „Anleitung zum Unkreativsein“ behandelt. (Fotos: Unsplash/Unsplash)
Ich möchte etwas neu denken – und zwar den Begriff „neu denken“.
Als Ergänzung zu einem Hauptwort ist „neu denken“ zu einer Art „2.0“ für jüngere Menschen geworden. Durch den Zusatz entsteht der Eindruck, eine Veränderung sei nötig und auch möglich. Keine Innovations-Konferenz, die nicht schon irgendwas neu gedacht hat. Ein kleiner Ausschnitt aus meinem Gute-Laune-Google-Alert zum Thema „neu denken“ aus den vergangenen Tagen:
- CDU will Ordnungsdienst neu denken (Wuppertaler Umschau)
- Digitalisierung neu denken (Female Future Force Day)
- „Es ist an der Zeit, Führung neu zu denken“ (Global Leaders Summit)
- Pommes in Gefahr: die Deutschen müssen Kartoffeln neu denken (Focus)
- Motorrad neu denken (Gummibereifung.de)
- Beton neu denken (Ruhr Universität Bochum)
Dafür dass so viel neu gedacht wird, wirkt die Gegenwart betrüblich alt. In den vergangenen Tagen feierte Stefan Raab sein Comeback als Fernseh-Komiker, die CDU stellte Friedrich Merz als Kanzlerkanditat vor und begonnen wurde diese spätersommerliche Retro-Welle von der Versöhnungs-Ankündigung der Gallagher-Brüder, die überall 90er-Jahre-/-Oasis-Vibes entstehen ließ.
Mehr als nur geschmacklich ärgerlich ist die Retro-Welle, die durch die schockierenden Wahlergebnisse der Rechts-Populisten bei den letzten Landtagswahlen losgetreten wurde. Und alles zusammen wirft die Frage auf: Haben wir vor lauter neu denken vergessen, Dinge anders zu machen?
Nicht selten habe ich in diesem Spätsommer die Behauptung gehört, all die Innovation, all das Engagement der vergangenen Jahren seien doch am Ende wirkungslos geblieben. Alles würde am Ende doch von den bestehenden Strukuren bestimmt – und in jedem Fall nicht besser. Ich bin unsicher, ob das stimmt, ich bin aber sicher, dass wir eine andere Haltung brauchen und habe deshalb die URL neudenken-neudenken.de reserviert – und die Antwort, die damit verbunden ist, ist anstrengend:
neudenken-neudenken.de
Pessimismus ist bequem. Den Niedergang zu sehen, ist nur oberflächlich deprimierend. In Wahrheit ist mit dieser Haltung stets das gute Gefühl verbunden, auf der richtigen Seite zu stehen. Denn wer feststellt, dass etwas (alles?) schlechter wird, weiß nicht nur, dass es mal besser war (oder sich so angefühlt hat): wer so denkt, muss sich auch weniger anstrengen um diese Weltsicht zu bestätigen. Recht haben ist die konsequente Belohnung für eine pessimistische Weltsicht.
Das Gute, die Verbesserung zu sehen, ist hingegen Arbeit. Es ist echt anstrengend, die kleinen Veränderungen nicht zu übersehen, die erkennbar sind für alle, die genau hinschauen. Dieser Blick auf die Realität ist aber nicht nur schwieriger, er ist vor allem trainierbar.
Eine optimistische, zukunftsgewandte Weltsicht ist nicht in erster Linie ein Wesenszug, sondern eine bewusste Entscheidung – und das heißt vor allem: „Optimismus kann man lernen“. So hat es Kevin Kelly im Gespräch mit meinem Kollegen Christoph Koch formuliert.
Wie das geht? Hier kommen fünf Vorschläge, um das „neu denken“ neu zu denken.
1. Umarme das Unsaubere
Wenig auf der Welt hat so viel Schlechtes gebracht und dabei so ein gutes Images wie die Reinheit: das Optimum, die Perfektion, die reine Lehre – egal, wie du es formulierst, es ist immer die gleiche Ursache des Übels: Menschen, die es absolut richtig machen wollen!
Egal, wie gut die Sache ist, für die gekämpft wird: wer sie kompromisslos durchsetzt, wird zu der Form von Maschine, vor der sich bei KI alle fürchten. Denn die absolute Reinheit kennt keine Ausnahme, keine Gnade, keine Menschlichkeit. Die absolute Reinheit kennt nur die Regel und deren Durchsetzung. Wer eine optimistische Sicht auf die Welt üben will, sollte sich zuerst von dieser Form des Perfektionismus verabschieden. Und am besten gelingt dies, wenn du lernst, das Unsaubere zu umarmen. Der Zauber der Veränderung liegt im Kompromiss, in der Graustufe.
2. Sei peinlich
Der wichtigste Satz, um möglichst klug und gleichzeitig cool zu wirken, lautet: „Ich bin skeptisch.“ Mit diesem Satz wirst du stets in dem Bereich verbleiben, der unpeinlich ist. Niemals wirst du herausstechen oder durch eine falsche Prognose als naiv gelten. Wer „Ich bin skeptisch“ sagt, erweckt den Eindruck alles zu überblicken und vor lauter Weitsicht sogar Gefahren zu sehen, wo die Naiven nur Chancen erkennen. Auf diese Weise skeptisch zu sein, nährt den Grundpessimismus in oben beschriebener Weise: Du bist immer im Recht. Aber du wirst dich auch nie an Veränderungen freuen.
Um optimistisch auf die Zukunft zu schauen, darfst du dir erlauben, dich zu begeistern. Du darfst Gefühle zulassen und Dinge ausprobieren. Meiner Einschätzung nach sind diese beiden Männer, die versuchen, Frisbee zu spielen noch immer das beste Bild für einen zukunftsgewandten, weil lernenden Blick auf die Welt. Ich habe die beiden in diesem Talk ausführlicher besprochen.
3. Mache kleine Schritte
Nichts motiviert mehr als das Gefühl, mit der eigenen Hände Arbeit Fortschritte erzielt zu haben: Selbstwirksamkeits-Erfahrung (SWE) hilft Menschen einen gestaltenden Blick auf die Zukunft zu haben. Denn das Gefühl, ich kann etwas beisteuern, meine Arbeit hat Wirkung, ist kaum zu ersetzen. Und dennoch wird SWE in Change-Prozessen selten eingesetzt.
Möglich wird die Selbstwirksamkeits-Erfahrung überall dort, wo Aufgaben in kleine Schritte zerlegt werden. Beim Marathon-Training wird dafür folgendes Bild genutzt: „Wie isst man einen Elefanten? Bissen für Bissen“ Dahinter steckt die Idee, auch sehr große Herausforderungen in Einheiten zu zerlegen, deren Bewältigung positive Gefühle weckt.
4. Denke langfristiger
Die Psychologen Philip Zimbardo und John Boyd haben einen Test entwickelt, der hilft die eigene Perspektive auf die Zeit zu untersuchen: Der „Zimbardo-Time-Perspective-Inventory“ ermittelt, wie nostalgisch oder zukunftsgewandt du auf die Welt blickst. Und erstaunlicherweise steigt dein Optimismus je langfristiger du denken kannst. Diese Beobachtung deckt sich mit der Antwort, die Kevin Kelly im oben zitierten Interview auf die Frage gibt, wie man Optimismus trainieren kann: „Indem man langfristig denkt – sowohl mit Blick auf die Vergangenheit als auf die Zukunft. Je weiter der Zeithorizont des Denkens, desto einfacher ist es, optimistisch zu sein.“ Und dann konkretisiert er es an seinem eigenen Denken: „Ich versuche, meinem Optimismus zu frönen, und arbeite gerade an positiven Szenarien für eine Welt in 100 Jahren. Eine erstrebenswerte Zukunft mit allgegenwärtiger KI, Gentechnik und konstantem Monitoring, in der ich selbst gern leben möchte. Denn ich glaube, damit wir eine solche menschenfreundliche Welt erschaffen können, müssen wir sie uns erst einmal vorstellen.“
5. Werde besser
Dass ich am Anfang gesagt habe, wir sollten uns vom Perfektionismus verabschieden, heißt nicht, dass ich gegen Verbesserung bin. Ich bin dafür, dass wir uns kontinuierlich verbessern, dass wir unsere Wahrheiten immer wieder herausfordern. Ich finde wir sollten einen Weg einschlagen, den ich „Vom Richtigmachen zum Besserwerden“ genannt habe.
Die Ideen dieses Textes werde ich auch im Rahmen einer Keynote beim Digitalforum Berlin am 8.10. vorstellen. Der Text ist Teil meines monatlichen Newsletters Digitale Notizen, den du hier bestellen kannst. Die Frage, wie das Neue in die Welt kommt und warum das manchmal kompliziert ist, habe ich in meinem Buch „Anleitung zum Unkreativsein“ behandelt.