Am schönsten ist es eigentlich, wenn man was hingeschrieben hat, von dem man das Gefühl hat, man versteht es selber nicht mehr
Das sagt Dirk von Lowtzow, Sänger und Gitarrist von Tocotronic im Reflektor-Podcast, den sein Bandkollege und -Bassist Jan Müller seit kurzem gemeinsam mit Kolja Podlowik (Antilopen Gang) und Thees Uhlmann (Tomte) betreibt (hier habe ich schon mal über deren Tocotronic-Begeisterung gebloggt).
Gemeinsam mit Drummer Arne Zank besprechen alle fünf das neue Tocotronic-Album „Golden Years“.
Die Podcast-Folge ist nicht nur sehr lustig, sie hilft auch auf erstaunliche Weise bei der Suche nach dem, was Anja Rützel in ihrer Spiegel-Besprechung „obligatorische Ostereier für Intertextualität-Freaks,“ nennt, „die Tocotronic-Lieder gern mittels Reverse Engineering in die Bezüge und Zitate zerlegen, aus denen Lowtzow sie möglicherweise zusammengebaut haben könnte.“
Dirk von Lowtzow vergleicht im Podcast den kreativen Prozess beim Schreiben mit einem Puzzle, „das man von den Rändern beginnt und sich dann immer weiter in die Mitte vorarbeitet“ – und als Antwort auf die Frage, von Uhlmann, ob er sich Themen suche für eine Platte beschreibt er seine Gedankenprozesse („also nicht so im Sinne von da gibt es eine Intention“) als eine „Verkettung von Zufällen“.
Als großer Ostereier-Intertextualitäts-Fans von Tocotronic-Songs erfeut mich diese Stelle aus dem Podcast (ab ca Min 08:00) besonders. Denn schon für das Lob der Kopie hatte ich mich am Beispiel des Songs „Jenseits des Kanals“ auf Ostereier-Suche begeben und einen Weg (menschenleer!) zu Gustave Flauberts Roman „Bouvard und Pecuchet“ aus dem Jahr 1881 entdeckt (aufs Foto klicken zum Vergrößern). Wie diese Wege entstehen, beschreibt von Lowtzow im Podcast: „Sowas fällt mir dann auf. Ich schreib mir das nicht auf oder so. Aber ich hab so ein Gedächtnis, das wird dann da irgendwie so abgespeichert. Und dann kommt so eines zum anderen.“
Mich fasziniert diese Beschreibung des kreativen Arbeitens – und die Betonung des Zufalls. Er kommt zu dem Fazit: „Und so setzt sich dann so ein Text zusammen. Aus lauter Bruchstücken der Erinnerung, eigentlich. Also nicht wie eine Bibliothek, wo man reingeht und was rausholt. (…) Das ergibt sich dann.“
Im weiteren Verlauf besprechen die fünf die aktive Sammelarbeit für neue Texte und von Lowtzow kommt zu dem Schluss: „Man muss schon Ostereier suchen gehen.“ Das ist nicht nur eine schöner Rückbezug zur zitierten Besprechung von Anja Rützel und eine erstaunliche Verbindung zwischen Sender und Empfängern (die offenbar ja beide auf die Suche nach Ostereiern gehen), es mündet auch in einer schönen Aufforderung zur Kreativität: „Und dann fange ich von vorne an“ lautet die letzte Zeile auf dem Album. Sie gehört zu dem Song „Ich schreibe jeden Tag einen neuen Song“.
Das gefällt mir sehr, weil es mit dem Kreativitäts-Tagebuch korrespondiert, das ich ans Ende der Anleitung zum Unkreativsein gestellt habe. Denn ich glaube, dass das Zusammensetzen von Zufällen, Bruchstücken und Ostereiern dann besser gelingt, wenn man offen bleibt und die Bereitschaft zeigt, sich finden zu lassen von guten Ideen – am besten täglich.
Und an den guten Tagen entsteht dann der Eindruck, den Dirk von Lowtzow ebenfalls in dem Podcast anspricht:
„Dann hat man hoffentlich irgendwann als Autor das Gefühl: es entsteht was, was ein bisschen mehr ist als die Summe der einzelnen Teile“
- Das Tocotronic-Interview im kaput-mag
- Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk! Meine zehn liebsten Tocotronic-Songs
- Die Folge des Reflektor-Podcast auf die sich die Zitate beziehen
- Übers Schreiben im Zeitalter von KI
- Übers Lesen im Zeitalter von KI