Was geht online? Die Netzkulturcharts sind meine völlig subjektive Antwort auf diese Frage. Ich liste darin Phänomeme auf, die ich inspirierend, interessant oder bemerkenswert finde. Sie sind regelmäßiger Bestandteil meines Digitale Notizen-Newsletters.
Gerade läuft noch der Netzkultur-Jahresrückblick mit den 50 wichtigsten Themen des Jahres – hier in der Übersicht und mit Reels auf Instagam.
Der Begriff „Netzkultur“ ist dabei bewusst offen und der zeitliche Bezug kann schlicht daran liegen, dass mir dieses Phänomen erst in dem Monat aufgefallen ist. Die Charts aus den Vormonaten stehen hier.
Platz 1: Die Stuttgarter Meme-Rolltreppe (als Symbol)
Dass in Stuttgart eine Rolltreppe an der Haltestelle „Universität“ kaputt ist, ist an sich noch keine Meldung. Das ist sie nämlich schon seit Jahren. Auch dass dort Studierende Memes ausgedruckt haben, ist nicht neu (Meme-Historiker:innen erinnern sich natürlich an die Uni Mainz). Neu ist, dass die Deutsche Bahn die Memes jetzt nicht nur endlich akzeptiert, sondern einen Wettbewerb ausgeschrieben hat – wie der SWR Anfang des Monats berichtete. Der Spiegel reiste an und fertigte einen szenischen Einstieg zum Bericht über die Stuttgarter Meme-Rolltreppe an. Das ist schön, rechtfertigt aber die Spitzenplatzierung in den Charts noch nicht.
Um diese zu verstehen, muss man den medialen Berichtskontext einbeziehen: Wenn in Deutschland Dinge aus dem Web dort auftreten, was hierzulande das echte Leben genannt wird, sorgt das für Verwirrung. Anders als in den US, wo die New York Times Netzkultur zum selbstverständlichen Bestandteil ihrer Berichterstattung macht, muss in Deutschland immer erklärt werden, was diese Memes denn eigentlich sind. Dabei hatte doch sogar der Kanzler gesagt: ich freue mich auf die Memes.
Platz 2: Kommentare-Song: „Halts Maul du Lappen! Kauf dir Leben“
Im Sommer veröffentlichte Julia Beautx gemeinsam mit Julian Bam einen Song („Nie genug geliebt“). Im Winter dominierte aber ein anderer Sound der Schauspielerin und Influencerin die Tiktok-Trends – eine Kooperation mit Rezo aus dem Jahr 2018. Damals hatten Beautx und Rezo beeidigende Nutzer:innen-Kommentare zu einem Song zusammengebaut. Das war damals schon lustig, seitdem aber nicht mehr auf der Aufmerksamkeits-Oberfläche aufgetaucht. Bis der Sound in diesem Herbst/Winter viral ging – als Untermalung zahlreicher Rück-Kommentare: „Halts Maul du Lappen, Kauf dir Leben. Ich muss mich hier gleich übergeben“
Platz 3: Threads in der EU
Jetzt auch in Europa! Der Twitter-Klon von Mark Zuckerbergs Meta lässt seit Mitte Dezember auch offiziell Nutzer:innen aus Europa zu. Das führt nicht nur zu kleinen Webwitzchen wie diesem Clip, der angeblich im US-Internet die Ankunft der Europäer:innen kommentierte, es wirft auch wieder und wieder die Frage auf: Ist Threads das neue Twitter? (und damit verbundene Meta-Diskussionen)
Dabei gibt es rund um die unzähligen Versuche, beiläufige textbasierte Nachrichten zum Kern eines sozialen Netzwerks zu machen, viel spannendere Fragen: Warum ändert Bluesky jetzt sein Logo? Wie geht der Kampf der EU gegen (Falschmeldungen auf) X aus? Gelingt die Verbindung zum Fediverse? Und wenn ja mit welchen Folgen?
Viele Antworten auf solche Fragen sucht der Podcast Haken dran, den ich sehr empfehlen kann. Darüberhinaus ist auch hier Ausprobieren eine gute Strategie. Und es steht weiterhin der Inivite-Code ins freie Internet zur Verfügung ;-)
Platz 4: Stadt-Meme-Accounts
Wer hat eigentlich gesagt, dass nur alte Menschen regionale Medien konsumieren? Vielleicht wurde bisher immer auf den falschen Kanälen geschaut: abseits der massenmedialen Aufmerksamkeit haben Stadt-Meme-Accounts ein neues Genre regionaler Medien begründet – mit junger Leser:innenschaft. Angebote wie muenchner.gesindel, Frankfurt am Meme, Köln ist kool, Stuttgarter Meme, Muenster Dings oder Essen diese machen eine besonderen Form von Lokaljournalismus. Sie berichten aus ihrer Stadt über ihre Stadt. Gerade das Beispiel aus Essen zeigt, welches Potenzial darin liegt. Als die WAZ vor zweieinhalb Jahren Robin, einen der Beitreber des Instagram-Kanals besuchte, schrieb sie: „Auf seiner Seite veröffentlicht er sogenannte Memes über Gepflogenheiten Essens – man spricht sie Miems aus.“ Mittlerweile veranstalten Robin und seine Miems-Freunde Events in der Stadt (Club Diese) und wollen die Stadt dazu bringen, ihre Motto am Hauptbahnhof in Essen diese umzubenennen.
Platz 5: Meme-Marketing
Diesen Monat gab es zwei sehr schöne Beispiele für die Kraft der Memes für gutes Marketing: die NGO Greenpeace und das Museum Bundeskunsthalle in Bonn haben sich beide Unterstützung von bekannten Meme-Accounts geholt, um Aufmerksamkeit für ihre Themen zu bekommen. Bei Greenpeace ging es um eine Studie um Mittelverschwendung bei der Bundeswehr und die Bundeskunsthalle nutzte die Kraft der Memes (von Cem A.’s Account @freeze_magazin) , um das Symposium „Post-Moderne: eine Karte für die Gegenwart“ zu bewerben. Letzeres erwähne ich auch deshalb weil es eine gute Gelegenheit bietet, mal auf das Phänomen freeze_magazin im Kunstbetrieb hinzuweisen. Im Interview mit dem monopol-Magazin erklärte der Macher hinter dem Account 2021: „Memes können unverblümter sein als traditionelle Kunstkritik und schneller auf aktuelle Ereignisse reagieren. Die Leute wissen das zu schätzen.“
🎵 Ungebetene Ohrwürmer* des Monats 🎵
- Last Christmas in der „I Guess I was the Shoulder to Cry on“-Spedup-Version
- JRitt „Benjamins Deli“
- Jain: „Makeba„
- Amaru x Gringo Bamba: „Blonde Chaya„
- Iñigo Quintero „Si No Estás“
* in dem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ nutze ich Ohrwürmer als Metapher um die Wirkung von Memes zu beschreiben. Deshalb ist es nur konsequent, sie nicht nur metaphorisch, sondern eins-zu-eins zu nehmen.
Besondere Erwähnung
Adam Aleksic ist der Simon Meier-Vieracker des englischen Sprachraums: Adam ist als @etymologynerd auf Tiktok unterwegs – und hat mir in diesem Jahr erklärt, dass das Oxford-Word-of-the-year aus der Mitte des Begriffs Charisma stammt: Rizz!
Simon ist als @fussballinguist auf Tiktok und bringt 2024 ein Buch raus, auf das ich mich schon sehr freue. Es heißt: „Sprache ist, was du draus machst“ und schon der Titel ist die vermutlich beste Antwort auf das, was gerade „Gender-Debatte“ genannt wird. Dazu zwei bemerkenswerte Netzkulturclips des Monats: Mario Barth und der abschließende Beitrag zum Thema von
Für mich eine der wichtigsten digitalen Erkenntnisse des Jahres: BeReal ist ein nahezu privates Netzwerk, das vor allem als Fototagebuch funktioniert. Neu dort: BTS. Das ist die Abkürzung für das jüngste Feature auf BeReal: Behind the Scence erlaubt kurze Videosequenzen kurz vor dem BeReal-Moment.
Sehr real soll auch das Phänomen Authentische Familienreaktionen rüberkommen.
Behandelt Tiktok Promi-Accounts unterschiedlich? Interessante Recherche vom Guardian
Mashable hat eine Übersicht der meistgesehenen Videos auf Tiktok gemacht – auf Instagram. Dazu passend: die größten Songs auf Tiktok. Zusammengefasst in einem Video – auf Tiktok
Offenbar ein großes Ding in diesem Jahr: Leser:innen darauf vorzubereiten, dass sie „an Weihnachten in der Familie“ mit Verschwörungs-Theorien konfroniert werden: der BR, der Spiegel und auch Jo Schück geben Tipps.
Alle Jahre wieder: in hochformatigen Videos wird zu einer beschleunigten Last-Christmas-Version getanzt. Hier von Tiktok in Emoji-Form die relevanten Tanz-Schritte zum Nachmachen ;-)
„Sag den Namen einer Frau“ ist gerade ein großes Ding in Paar-Videos. Die Frau fordert filmend den Mann auf, einen Frauen-Namen zu sagen. Das Ergebnis sagt dann offenbar etwas über den Mann oder den Beziehungsstatus aus. #nameawoman
Dass Nader Jindaoui jetzt tatsächlich für das Profi-Team von Hertha BSC spielt, ist schon eine gute Geschichte. Wird 2024 sicher noch interessant.
Donnie zeigt wie Rickrollin auf Threads funktioniert: So
LinkedIn testet offenbar hochformatige Videos, die sehr stark an Tiktok erinnern.
Der Spiegel porträtiert Tara-Louise Wittwer und ihr Format TikToxic
Der BR porträtiert die Spezi-Suchtis
Die ARD stellt den König von Tiktok vor.
Im November vergessen zu erwähnen: die ARD-ZDF-Onlinestudie ist da.
Ebenfalls in diesem Jahr vergessen, in den Charts zu erwähnen: Maximilian Janisch, der Cache Cache Trappe Trappe Junge von Tiktok, über den die Comicschau schreibt: „Große Bekanntheit erlangte der aktuell in Zürich studierende Janisch vor allem dadurch, dass er seinen Ausschnitt aus einer Dokumentation im Jahr 2015 auf TikTok selbst erklärte. Mit den zwei Videos erreichte er rund 15 Millionen Aufrufe„.
Gleiches gilt für Sandra Schmitz und Martin Kaysh, die in Dortmund im Geierabend-Ensemble auftreten. Auf Tiktok bringen sie Ruhrgebietssprache auf den Punkt – mit dem tollen Account @inruhrpott, in dem sie das Muster „in xx sagen wir nicht, wir sagen“ aufs Ruhrgebiet übertragen.
Und übrigens: der 10-jährige Teddy aus England mag das Nerd-Face-Emojis nicht.
Die Netzkulturcharts sind eine subjektive Rubrik aus meines Newsletter „Digitale Notizen“. Mehr über Netzkultur in meinem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ – und im Account @kommemetare auf Instagram. Die Platzierungen der Vormonate sind hier nachzulesen.