Es ist eine kleine Sequenz am Rande dessen, was diese tolle SZ-Langstrecke als Angriff aufs Herz der Demokratie beschreibt: „Es artete zu einem Sturm auf das Kapitol aus. Von Trump billigend in Kauf genommen. Seine Anhänger durchbrachen Barrikaden, verschafften sich Zugang in das Gebäude, in die beiden Kongresskammern. Sie ersetzten eine US-Flagge gegen eine Trump-Flagge und beschmutzten die Büros von Senatoren und Abgeordneten. Es gab Tote, Verletzte. Es war ein Akt der Demütigung.“
Am Rande dieses Angriffs aufs Kapitol in Washington trägt sich eine Szene zu, die Hunter Walker (Korrespondent für Yahoonews) filmt und die nun als #ElizabethFromKnoxville Vorlage für zahlreiche Bearbeitungen geworden ist: dieser Clip ist viral gegangen.
Zu sehen ist eine junge Frau, die sich selbst als „Elizabeth from Knoxville“ vorstellt (Hunter Walker schreibt, dass sie vermutlich anders heißt) und anschließend zu einer erstaunlichen Klage ansetzt: Sie habe Tränengas abbekommen, äußert sie wiederholt und reibt sich dabei ein Handtuch durchs Gesicht (das Gerücht, dass es sich um ein Handtuch mit Zwiebel handelt, um Tränen zu provozieren, ist wohl falsch). Walker fragt sie, wie es dazu gekommen ist: „Sie haben versucht, ins Kapitol zu gelangen?“ Antwort: „Ja, ich schaffte es etwa einen Meter hinein und sie stießen mich hinaus und ich bekam Pfefferspray ab.“ Nachfrage: „Warum wollten sie hinein gehen?“ Antwort mit leichter Entrüstung in der Stimme: „Wir stürmen das Kapitol. Es ist eine Revolution.“
Neben den vielen veralbernden Reaktionen im Netz (auf Tiktok ist der Ton mittlerweile zur Kopiervorlage geworden), fragen sich viele Menschen vor allem, welche Vorstellung diese Frau wohl von einer Revolution hatte („Elizabeth wasn’t happy with her treatment at the revolution.“). SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach kommentiert: „Wenn es nicht so traurig wäre müsste man lachen, die Naivität und das Selbstmitleid dieser „Revolutionärin“ zeigen die entwaffnende Dummheit der Trump Bewegung.“
Meiner Einschätzung nach ist diese Szene eher Ausdruck einer selbstmitleidigen Empörung, die ich als typisch für die Gegenwart empfinden würde. Mit aller gebotenen Vorsicht weil ich keine weiteren Details über die Szene kenne, sehe ich in Elizabeth das perfekte Symbol für die sich stetig empörende Gegenwart. Alles an diesem Video sagt: „Ungerecht! Ich bin empört, weil ich ungerecht behandelt wurde“. Dass man so reagiert nachdem man gerade erkennbar gegen Gesetze verstoßen hat, macht die Absurdität dieser (selbstmitleidigen) Einschätzung besonders sichtbar. Das Problem: Für die Personen, die sich ungerecht behandelt fühlen, bleibt die Situation dennoch ungerecht. Für sachliche Argumente oder Reflektion sind sie in dieser Lage kaum zu erreichen. Und genau auf diesen Mechanismus setzt populistische Politik: Sie redet dir ein, die Welt wäre gegen dich. Elizabeth from Knoxville ist insofern Symbol einer besonders erfolgreichen populistischen Politik. Diese Frau scheint sich sogar dann als Opfer zu fühlen, wenn sie gerade gewaltsam gegen Gesetze verstößt. Sie hat offenbar nicht nur den Eindruck, es stehe ihr zu, das Kapitol zu stürmen. Sie glaubt sich dabei so sehr im Recht, dass sie nicht versteht, weshalb sie zurück gehalten wird.
All das ist meine Spekulation, ich habe mit ihr darüber nicht gesprochen. Und dennoch finde ich, dass man diese kurze memetische Sequenz als Mahnung für die Macht der Ungerecht!-Emotionalisierung lesen kann. Im vergangenen Frühjahr hatte ich nach der Umweltsau-Empörung genau über diese Machtmechanismen der Emotionalisierung geschrieben und mit Blick auf die in diesem Jahr anstehende Bundestagswahl lohnt es sich daran zu erinnern: Sei besonders aufmerksam, wenn dein Ungerechtigkeits-Gefühl getriggert wird!
Es ist schon klar, dass ich als privilegierter weißer Cis-Mann äußerst aufmerksam über das Thema Ungerechtigkeiten sprechen sollte. Denn natürlich steckt in der Bekämpfung struktureller Ungerechtigkeiten ein bedeutsamer politischer Antrieb. Mir geht es bei der Beobachtung aber vor allem um die Instrumentalisierung von politischen Emotionen. Dabei möchte ich auf diese vier P (Popularisierung, Polarisierung, Personalisierung und Prozess) zurückgreifen, die ich in „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ als typisch für den digitale Diskurs beschrieben habe. Man kann sie auch in der Instrumentatalisierung des Ungerecht-Triggers beobachten:
1. Popularisierung: Die wirksamte populistische Leistung der Gegenwart liegt darin, dir nachhaltig das Gefühl zu geben, die Welt sei gegen dich. „Du persönlich leidest unter den Umständen, du wirst ungerecht behandelt. Du bekommst nicht, was dir zusteht.“ Wenn dieses Gefühl verankert ist, ergibt sich quasi automatisch die Frage nach den Schuldigen:
2. Polarisierung: Es gibt eine Gegenseite. Eine Elite, eine Lobby, ein Establishment, das manchmal von geheimen Plänen geleitet wird, aber stets gegen dich ist. Dieses „Wir gegen Die“ ist einerseits ein Identitätstreiber in Social-Media, in ihm steckt aber vor allem die Grundlage für den dritten Punkt:
3. Personalisierung: Deine Gruppenzugehörigkeit spielt eine Rolle. Du bist nicht mehr nur Beobachter:in, Du bist aktiver Bestandteil der Debatte. Deine Meinungsäußerung ist wichtig, deine Kaufentscheidung spielt eine Rolle. Ein Schweigen oder gar eine Meinungslosigkeit kannst du dir nicht erlauben. Teile das unbedingt! ist ein politischer Schlachtruf geworden. Denn: Es geht immer weiter.
4. Prozess: Memetische Kultur ist stets dynamisch, sie geht über die Aussagen hinaus und kalkuliert Reaktionen und Empörungen mit ein. „Eine Hasskampagne, über die nicht berichtet wird, ist quasi fehlgeschlagen“, sagt Whitney Phillips in diesem Interview und richtet damit den Blick auf den prozesshaften Charakter der Empörungskommunikation.
All das kann man meine ich in diesem Clip zu erkennen. Diese 28 Sekunden sind ein erstaunliches Symbol für gegenwärtige Kommunikationsmuster, die natürlich von Polarisierung und den Emotionalisierungs-Mechanismen der sozialen Medien geprägt sind. Die Grundlage dafür bildet meiner Einschätzung nach dieses Gefühl, überall und ständig ungerecht behandelt zu werden – sogar wenn man gerade einfach nur das Kapitol stürmen will.
Mehr zum Thema hier im Blog: Die Empörung der Anderen, Freiheit zum Andersdenken, Fünf Fitness-Übungen für Demokratie sowie Social-Media-Gelassenheit
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