Dieser Text ist Teil der April-Folge meines monatlichen Newsletters „Digitale Notizen“, den man hier kostenlos abonnieren kann. Das Feuer-Bild oben wurde mit Hilfe einer KI in Canva erstellt.
Vor ein paar Tagen wurde mir ein Insta-Reel zur Aufmerksamkeit gebracht (also in den Feed gespült), das aus dem Film „The Secret – Trau dich zu träumen“ stammt. Es zeigt den Schauspieler Josh Lucas in der Rolle des Ingenieurprofessors Bray Johnson, der am Beispiel eines Magneten illustriert, dass es Kräfte gibt, die wirken auch wenn man sie nicht direkt sieht. Im weiteren Verlauf der Szene nutzt er die Metapher, um zu verdeutlichen, dass durch die Art wie wir unsere Aufmerksamkeit auf manche Dinge lenken auch bestimmt wird, wohin unsere Energie fließt.
Wenige Stunden nachdem ich eher durch Zufall diesen Clip gesehen hatte, wurde mir am Sonntag ein Werbespot der Firma Adidas gezeigt, den ich als direkte Ableitung aus der Magnet-Theorie aus dem Film verstehen würde: Es handelt sich um eine Werbung für das so genannten Auswärtst-Trikot der deutschen Fußball-Nationalmannschaft der Herren für die Heim-EM in diesem Sommer. Die einzig relevante Frage dazu hatte meiner Einschätzung nach der Fußball-Creator Jan OSaft gestellt: „Ich verstehs nicht, warum brauchen wir denn eine Auswärtstrikot? Die EM findet doch in Deutschland statt. Hä, ist doch total dumm“
Als gar nicht dumm wird die Werbung gewertet, die DFB und Ausrüster Adidas am Sonntag veröffentlicht haben: sie wird als Antwort auf Reaktionen gewertet, die es nach der offiziellen Vorstellung des pinken Trikots am Donnerstag gab (die übrigens die Spielkleidung maximal „typisch deutsch“ aufgeladen hat)
Für mich ist die Diskussion und die (inszenierte) Ablehnung aber vor allem die perfekte Illustration für die Mechanismen, nach denen digitale Öffentlichkeit funktioniert. Ich fühle mich sehr an das Muster erinnert, das ich vor zwei Jahren als Glut-Theorie der öffentlichen Debatte beschrieben habe: es geht um das Reiz-Reaktion-Reaktion-Muster vieler digitaler geführter Debatten. Dabei ist die Empörung oder der Widerspruch der vermeintlichen Gegenseite bereits eingepreist in die eigene Argumentation. Wo Habermas noch den zwanglosen Zwang des besseren Arguments und daraus folgend die Bereitschaft zum Kompromiss vermutete, findet sich heute vor allem das gute Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Denn eine öffentliche Äußerung ist nun Ausdruck der eigenen Identität und deshalb nicht mehr verhandel- und vor allem nicht änderbar. Meinungen werden zu Memes, habe ich es im Essay für den Deutschlandfunk beschrieben.
In diesem neuen digitalen Ökosystem müssen Äußerungen nicht mehr nur provozierend und polarisierend sein, sondern vor allem auf den Prozess angelegt. Die Reaktion kommt nicht nach der Veröffentlichung, sie ist Teil der Veröffentlichung – und befeuert das eigene Ausgangs-Argument.
Beim pinken Trikot geht es natürlich nicht um eine sachliche Debatte, sondern um einen Konsumartikel, der durch das memetische Muster mit einem Wert aufgeladen wird. Damit das Leibchen aber wirklich zu einem Fashion-Statement werden kann (wie es die Reaktions-Werbung behauptet), braucht es den Widerspruch, den Focus und t-online nach der Vorstellung auch brav beobachteten und damit größer machten. Der Focus schrieb: „Das neue Auswärtstrikot der deutschen Nationalmannschaft polarisiert mehr als es sollte. In den sozialen Netzwerken regt sich eine Gruppe von Menschen über den „Woke-Wahnsinn“ im DFB-Team auf.„
Das mag nach Kritik klingen, ist aber notwendiger Bestandteil der Trikot-Kampagne. Erst durch die vermeintliche Ablehnung und die ausführliche Berichterstattung darüber, wird die Farbe zu einem Statement. Das war allen, die an dem Trikot und seiner Verbreitung gearbeitet haben, vorher klar: Sie haben den Widerspruch nicht nur einkalkuliert, sie haben ihn zum Teil ihrer Werbung gemacht.
Das Prinzip dahinter kennen wir von der falsch ausgesprochenen Avocado, die Widerspruch hervorruft, was in digitalen Ökosystemen zu Popularität führt. Dieses Muster ist in zahlreichen Ausprägungen zu beobachten. Im Fall des Trikots ist es aber besonders gut zu beschreiben: Weil der Anlass eher nichtig ist, die Trigger-Punkte aber auf die gleiche Weise angesprochen werden.
Trigger-Punkte nennt der Soziologe Steffen Mau die Auslöser für memetisch geführte Debatten. In dieser Folge des Podcasts „Lage der Nation“ erklärt er, wie „Polarisierungs-Unternehmer“ diese Trigger-Punkte zur Profilierung nutzen.
Wer dieses Muster verstehen will, hat mit dem pinken Trikot nun ein sehr schönes Beispiel vor Augen – das im besten Fall auch zeigt, dass Trigger in beide Richtungen funktionieren.
Dieser Text stammt aus dem monatlichen Newsletter „Digitale Notizen“, der stets am Ende des Monats kostenfrei verschickt wird. Darin befasse ich mich immer wieder mit den Mustern digitaler Kommunikation (so lautet übrigens der Untertitel meines Meme-Buchs), z.B. in dem Text Das Einfluß-Paradox der Gegenwart sowie Die Empörung der Anderen