Einer der schöneren Sätze aus der Frühphase des Netzes lautet: „Das Internet ist kein Einschaltmedium“. In Zeiten des Always-on bekommt diese Aussage eine neue und andere Bedeutung. Denn Einschalten muss man das uns stets begleitende Netz tatsächlich nicht mehr. Dass Anfangszeiten in diesem Medium allerdings bedeutungslos wären, glaube ich hingegen nicht (mehr).
Ich habe während der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele versucht, dem Hashtag #London2012 auf Twitter zu folgen. Es war nicht möglich. Die App meines mobilen Endgeräts war nur in der Lage, die rund 50 Tweets der letzten 10 Sekunden anzuzeigen. Es gelang also nicht mal, selber einen Tweet mit dem Hashtag abzuschicken und ihn kurz danach in der Übersicht zu kontrollieren – er war bereits hinweggespült von der Vielzahl der Beiträge all jener Menschen, die genau zu diesem Zeitpunkt eingeschaltet hatten.
Das kann man als Beweis dafür lesen, dass das Fernsehen noch immer die Schlagzahl dessen vorgibt, was der Link-Service bit.ly in seinem Dienst realtime als „internet attention“ bezeichnet. Wofür interessieren Menschen sich genau jetzt? Diese Frage ist der Antrieb hinter dem Dienst, der als wunderbares Beispiel dafür dient, warum die Behauptung mit der Einschaltzeit nur halb richtig ist. Genau jetzt war schon immer die relevante Netz-Zeit (hier ein fünf Jahre alter Text zu dem Thema), aktuell können wir beobachten, was sich aus diesem genau jetzt ableiten lässt: Es wird zum zentralen Verbindungspunkt der vernetzten Welt.
Der realtime-Dienst ist bisher nur auf Einladung zu nutzen, thenextweb war aber bereits drin und zeigt: Es geht um die zeitgebundene Vernetzung von Menschen und Themen. Das Prinzip, das Fernsehmenschen gerade mit dem Schlagworten Second Screen und Social TV versehen, wird in den kommenden Jahren wachsenden Einfluß auf die Ausgestaltung der Netzkommunikation haben. Schon heute verbindet das Netz Menschen, genau darin steckt der Wert von Facebook, das versucht, diese Verbindung um die Komponenten Raum zu erweitern. Wo sind meine Freunde gerade? ist aber gar nicht so spannend. Im Zweifel sind sie nämlich eben auch im Netz. Viel spannender ist die Frage nach dem Zeitpunkt. Wie das unsere Vorstellung von der Erstellung und dem Konsum von Kultur, Nachrichten, Musik und Filmen ändern kann, zeigt das Beispiel Visualize Yahoo!, wo das Netz nicht mehr als Wandzeitung verstanden wird, sondern als soziales Erlebnis, das durch die Menschen geformt wird, die gerade jetzt mit dabei sind.
Womit man wieder bei den Einschaltzeiten ist. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass das Netz eigene Events schaffen wird, die höhere Bindungskraft entwickeln als ein sonntäglicher Tatort auf Twitter. Live-Ereignisse, die etwas liefern, was aufgezeichnet einfach weit weniger zauberhaft ist. Warum will niemand die Aufzeichnung eines Fußballspiels sehen? Weil es live spannender ist.
Warum denken wir all das nicht auch auf andere kulturelle Ereignisse? Warum eigentlich soll ich mir die Aufzeichnung des Entstehungsprozesses einen Textes oder Interviews durchlesen, wenn doch technisch auch ein Live-Event möglich wäre?
Um all das geht es in meinem Projekt Eine neue Version ist verfügbar, das ich im Herbst starten will. Hier kann man sich dafür eintragen. Jetzt, in Echtzeit!
Update: Als ich den obigen Eintrag schrieb, war mir nicht bewusst, dass es wie Steven Johnson tweetet offenbar Probleme bei der „live“-Übertragung im amerikanischen Fernsehen gab
Time-shifted sports have always been annoying, but Twitter’s real-time global conversation has made them obsolete. #nbcfail
— Steven Johnson (@stevenbjohnson) Juli 28, 2012
Update 2: Steffen Konrath weist darauf hin, dass der für kommende Woche angekündigte Digg-relaunch auf die Dienste von Realtime zurückgreifen wird.
1 Kommentar
[…] man diese Serie gesehen haben um zu verstehen, wie Menschen das Internet sehen die nicht mit der selbstverständlichen Echtzeit-Systematik des Always-On sozialisiert wurden. Man muss verstehen, dass es eine Zeit gab – und die ist […]