Natürlich kann man im Web gute Reportagen erzählen. Man hat Töne, Bilder, Filme zur Verfügung und kann mit ihrer Hilfe den Text anreichern, Eindrücke greifbar und Geschichten lebendig werden lassen. „Multimedia“ ist das Schlagwort für diese Art der Erzählung, die Slideshows und Videos produziert, die häufig den Titel „Webreportage“ tragen. Der Reporter-Preis sucht unter diesem Titel jedes Jahr preiswürdige Geschichten, die aktiv die Möglichkeiten des digitalen Erzählens nutzen (gerade sind die Nominierungen für das Jahr 2012 veröffentlicht worden).
In diesem Jahr haben mich die Initiatoren eingeladen, in der Vorjury die eingereichten Webreportagen zu bewerten. Gemeinsam mit Richard Gutjahr, Ole Reißmann und Ariel Hauptmeier habe ich mich durch bewegende, spannende und leider manchmal auch erwartbare Multimedia-Erzählungen geklickt. Das war erstaunlich und erfreulich, es hat aber auch ein Defizit offengelegt: die interaktive Dimension des Web geht den meisten dieser Webreportagen ab. Sie verstehen sich als Mulitmedia-Erzählform, die oft auch über einen Fernsehkanal verbreitet werden könnte. Das Einzigartige, das nur im Web möglich ist – nämlich mit dem Leser zu reden, Geschichten fortzuentwickeln und zu verändern – nutzen sie in den seltensten Fällen.
Warum ist das so? Warum sind Beispiele wie die Live-Reportage von Michalis Pantelouris oder das Losgehen von Richard Gutjahr während des Arabischen Frühlings so selten? Warum verstehen wir Web-Reportage immer von ihrem Resultat und so selten von ihrem Prozess her? Warum rücken wir den Reporter, der im Web ja zur greif- und ansprechbaren Figur wird, nur in Seminaren und Vorträgen in den Mittelpunkt, aber so selten in seinen eigenen Geschichten?
Ich habe diese Fragen im Rahmen der Vorjury-Sitzung thematisiert. Ich habe vorgeschlagen, den Preis umzuwidmen und einen Webreporter/Webreporterin auszuzeichen, der seine Arbeit offenlegt, der ansprechbar wird und der seine Experimente dokumentiert. Denn hier liegt – nicht nur weil ich es gerade auf einem anderen Feld probiere – die Chance für das digitale Erzählen: die Möglichkeiten des interaktiven Web zu nutzen. Dass es dabei weit weniger um Selbstdarstellung geht als Kritiker annehmen mögen, zeigen diese beiden Beispiele, die Paul Lewis vom Guardian in diesem TED-Talk darlegt. Für mich sind auch diese Geschichten genau das: Webreportagen.
Wer die Möglichkeiten der Recherche im Web nutzt (wie in der Guardian-Geschichte), wer (wie Michalis in der Live-Reportage) den Leser in Echtzeit am Scheitern und Gelingen seiner Arbeit teilnehmen lässt, wer sich auf den Weg macht und mit den Mitteln des Netzes (wie Richard es in Ägypten getan hat) erzählt, was er erlebt – wer also das Web in seinen Möglichkeiten nutzt, der schafft eine gute Webreportage. Denn das Netz verflüssigt die Reportage und erweitert sie um ihren Verfasser. Das Netz schafft so mehr Möglichkeiten, die es abzubilden – und womöglich auch auszuzeichnen gilt. Denn Preise sind ja nicht nur Lob, sie sind auch Ansporn, Dinge neu zu denken. Deshalb freue ich mich, dass ich vom Reporter-Forum (und auch der Vorjury) Signale erhalten habe, im kommenden Jahr vielleicht tatsächlich, den Preis für einen Webreporter/Webreporterin zu vergeben.
Für dieses Jahr aber zunächst mein herzlicher Glückwunsch an die nominierten Webreportagen für das Jahr 2012 – die Jury wird am 3. Dezember ermitteln, wer schlussendlich ausgezeichnet wird:
>> Anne Backhaus /Roman Höfner: Japan – Ein Jahr nach der Katastrophe
>> Manuel Bauer / 2470media: Flucht aus Tibet
>> Fabian Biasio / Michael Hagedorn: Auf den Everest
>> Uwe H. Martin: Killing Seeds
>> Annika Bunse / Julius Tröger: DDR-Flüsterwitze
>> Joanna Nottebrock: Von Griechenland nach Deutschland
>> Robert Schöffel/ Max Hofstetter: „Auch in meinem Leben gibt es Lärm“
>> Marc Röhlig: Die Unperfekten
>> Amrai Coen / Bernhard Riedmann, Nicht von Gott gewollt
>> Ralph Sondermann / Bernd Thissen Mobile Blues Club
Update: Der Kollege Matthias Eberl hat auf meinen Eintrag reagiert – hier nachzulesen. Matthias war nicht nur gemeinsam mit mir in der Journalistenschule, er ist vor allem Mitglieder der Jury des Reporter-Forums, die über die Gewinner entscheidet!
1 Kommentar
Deine Kritik an bestehenden Web-Reportagen und Deine Einschätzung darüber, was grundsätzlich möglich ist, kann ich nur bedingt teilen. Im Rahmen dessen, was Verlage und Medienunternehmen in Deutschland als akzeptable Web-Formate ansehen, sind diese Beiträge einzuordnen. Und frei produzierte Web-Reportagen müssen sich am deutschen Mainstream orientieren, da sie sonst auch zu wenig mediale Beachtung finden und damit einem größeren Publikum unzugänglich bleiben.
Wo sind die Redakteure, Verlage und Medienhäuser, die eine neue Formen ausprobieren (lassen)?
Denn dazu braucht es nicht nur Journalisten, die andere Formate ausprobieren wollen, sondern auch Redakteure, Redaktionen und Verlage, die solche Formate auch zulassen und fördern. Es gibt Journalisten, die genau diese neuen Wege bestreiten wollen. Doch die ausgetretenen journalistischen Pfade, vor allem in Deutschland werden von den großen Nachrichtenportalen nicht verlassen und wenn jemand versucht einen neuen Weg zu gehen, wird er entweder zurückgepfiffen oder soll den Weg auf eigene Gefahr gehen und sich selbst ausbeuten.
Deine Beispiele, wie es auch anders gehen kann, zeigen nur, dass Ausnahmen nicht die Regel sind und dass diejenigen, die etwas anderes entwickeln wollen auf sich allein gestellt sind. Dafür sollen sie auf eigene Kosten neues entwickeln und gleichzeitig in bestehende Schemata passen! Denn wer vergibt schon einen Auftrag, der ein anderes Ergebnis hat, als das bestehende?
Ob und wie die Beteiligung des Verfassers dabei vorkommen muss, hat nichts mit einer guten Web-Reportage zu tun. Da kann ich mich nur meinem Kollegen Matthias Eberl anschließen, der das unter Punkt 4. richtig beschreibt.
Das Neues entwickelt werden muss sehe ich auch so, doch dafür braucht es mehr, als nur die Reporter, sondern auch Plattformen, die dem Neuen ein Forum bieten und das auch noch anständig bezahlt.