Was für ein (mehr oder weniger) schöner Satz:
„Heute geht es jedoch immer weniger darum, mehr zu wissen.“
Er steht unter der Bilderstrecke, in der Spiegel Online die Motive der neuen Werbekampagne des Spiegel vorstellt. Ihm folgt die Erklärung dafür, warum der bisherige Slogan („Spiegel-Leser wissen mehr“) ersetzt wird. „Heute geht es viel mehr darum, schnell zu wissen, wie die Geschehnisse der Welt einzuordnen sind. Was ist wichtig, was nicht? Was bedeutet es? Der SPIEGEL hat deswegen von jetzt an eine neue Markenbotschaft.“
Die Fortentwicklung von „mehr wissen“ ist für Deutschlands großes Nachrichtenmagazin „die Wahrheit“. Denn die neue Markenbotschaft lautet: „Keine Angst vor der Wahrheit„.
In eigener Sache erklären die beiden Chefredakteure Klaus Brinkbäumer und Florian Harms was sie damit meinen: „In Zeiten allgegenwärtiger Information im Internet kommt es heute aber nicht allein darauf an, mehr zu wissen – sondern vor allem darauf, mehr zu verstehen, Zusammenhänge zu erkennen, die Bedeutung von Geschehnissen einschätzen zu können.“
Ob das dann schon „die Wahrheit“ ist, von der Spiegel und Spiegel Online sprechen, ist nicht ganz klar. Sicher ist jedoch, sie haben keine Angst vor ihr. Deshalb „scheiden sie das Wichtige vom Unwichtigen, sie machen Kompliziertes überschaubar, und sie erklären und ordnen die relevanten Geschehnisse ein„. So steht es in der Ankündigung der Chefredakteure, in der sie den (Werbe-)Weg vom Wissen zur Wahrheit beschreiben.
Statt dem Leser also mehr Wissen zuzumuten, wollen sie das Komplizierte überschaubar machen und entscheiden, was wichtig ist. Das mag nach einem netten Service klingen, mit dem Begründungsrahmen „Wahrheit“ wohnt diesem Service aber auch etwas Unangenehmes gar Bevormundenes inne. Auf russisch heißt Wahrheit zum Beispiel Prawda.
Es ist anzunehmen, dass den Markenverantwortlichen und der betreuenden Agentur bewusst war, dass das Unwort des Jahres in direktem Gegensatz zum neuen Slogan steht. „Keine Angst vor der Wahrheit“ liest sich wie ein trotziges „wohl wahr“, das der Spiegel als kritisierte „Lügenpresse“ seinen Kritikern entgegnet.
Ob das eine sinnvolle Replik ist, sollen andere entscheiden. Ich selber glaube, dass der Lügenpresse-Vorwurf einen Vertrauensverlust politisch gegen die Meinungsfreiheit zu instrumentalisieren versucht. Vertrauen wiederum entsteht eher da, wo Transparenz vorhanden ist, wo „mehr Wissen“ zugänglich gemacht wird – als dort, wo ein „wohl wahr“ als Begründung bemüht wird. Was ich meine: „Wahrheit“ erscheint mir – im Gegensatz zu Wahrhaftigkeit, Verlässlichkeit, Transparenz und Glaubwürdigkeit – als untaugliche Kategorie für Medien in einer freien Gesellschaft. Im Wettstreit der Ideen zerstört der Anspruch auf Wahrheit einen gleichberechtigten Diskurs, der Lügenpresse-Vorwurf beweist dies ex negativo.
Doch der Wahrheits-Anspruch ist nicht nur merkwürdig, wenn man sich überlegt wer sich sonst auf diese Kategorie beruft. Der Wahrheits-Anspruch in der neuen Markenbotschaft des Spiegel zeigt zudem: Sie ist nicht digital gedacht. Um das zu erkennen, muss man nachlesen, wie David Weinberger erläutert, wie sich Vertrauen in den neuen medialen Umfeldern aufbaut. Er hat die Encyclopaedia Britannica und die Wikipedia und vor allem die Art und Weise verglichen, mit der Leserinnen ihnen vertrauen. „Das Vertrauen, das wir der Encyclopaedia Britannica entgegenbringen, ermöglicht es uns, passiv Wissen aufzunehmen„, schreibt Weinberger, „Wikipedia liefert uns jedoch die Metadaten zu den Artikeln – Bearbeitungen, Diskussionen, Hinweise, Links zu anderen Bearbeitungen, die von derselben Person stammen –, weil sie vom Leser erwartet, dass er sich aktiv beteiligt und auf die Zeichen achtet.“ Wikipedia erscheint in Versionen, die man einordnen und bewerten kann. Metadaten sind verfügbar. Ein Mehr an Wissen wird also dem Wahrheits-Anspruch entgegengesetzt. „Jetzt müssen wir selbst entscheiden, was wir glauben wollen. Das war zwar im Grunde schon immer so, doch in der Welt der Papierordnung, wo das Publizieren so teuer war, dass wir Leute brauchten, die das Filtern übernahmen, war es leichter, unsere Passivität als unvermeidlichen Bestandteil des Lernens zu betrachten; wir dachten, dass Wissen eben so funktionieren würde.“
Es ist äußerst interessant Weinbergers Theorie über Wissen und Wahrheit auch abseits von der neuen Spiegel-Markenbotschaft zu lesen. Mit Blick auf diese hätte ich mir vom „Sturmgeschütz der Demokratie“ (auch ohne Weinberger) etwas erwartet wie: „Keine Angst vor denen, die sich auf die Wahrheit berufen.“
12 Kommentare
Frak! Disqus löscht den ganzen Kommentar, wenn man ihn erst schreibt und sich dann einloggt. Darum mein Kommentar von eben nochmal in kurzform, weil ich keine Lust haben, den nochmal zu schreiben: WTF?
1. Es gibt keine Alternative zu „Keine Angst vor der Wahrheit“! Was soll man sonst sagen: Wir haben zwar Angst vor der Wahrheit, können dafür aber toll malen?
2. Ist es jetzt schon soweit, dass man sich über einen negativen Ausschluss definieren muss? Gibt es nichts mehr wofür man wirklich stehen will? Ich meine … wenn man schon keine Angst hat, wäre vielleicht „Keine Angst vor Unterdrückern“ die wichtigere Angst, die man nicht haben sollte, oder?
3. Es ist ja auch noch falsch argumentiert. Wenn es wirklich darauf ankommt „mehr zu verstehen, Zusammenhänge zu erkennen, die Bedeutung von Geschehnissen einschätzen zu können,” dann reicht es lange nicht aus, keine Angst vor der Wahrheit zu haben. Verständnis, Zusammenhänge, Bedeutung und Einschätzungen, kann ich im Zweifelsfall sogar gänzlich ohne Wahrheit herstellen, vor allem aber sind sie eine Leistung, die über die Wahrheit weit hinaus geht.
[…] Der Spiegel und “Heute geht es jedoch immer weniger darum, mehr zu wissen.” […]
„Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“, hatte einst Heinz von Foerster gefolgert. Denn, wer von Wahrheit spricht, impliziert die Lüge immer schon mit. Wahrheit ist aber per se nicht zu finden, da sie eine objektive Wirklichkeit voraussetzt, die es nicht gibt. Wir leben in verschiedenen Wirklichkeiten, die je nach Kultur, Sozialisation und anderen Prägungen mehr oder weniger große Schnittmengen miteinander haben. Die eine Wahrheit zu suchen ist daher vergebene Liebesmüh. Nicht nur das: Wahrheit schafft Fronten und stellt die einen als Lügner und die anderen als edle Wahrheitsfinder dar. Da sind Konflikte bis hin zu Kriegen vorprogrammiert. Das kann jeder beobachten, der einer Diskussion um Wahrheit einmal verfolgt hat. In einer multikulturellen Gesellschaft und Wirklichkeit, wie wir sie vorfinden, wird das Wahrheitskonzept immer unbrauchbarer. Aufgabe von Journalismus ist daher tatsächlich, Transparenz zu schaffen. Viele verwechseln das jedoch immer noch mit Wahrheitsfindung. Es geht aber vielmehr immer schon um Verstehen.
Die Disqus-Technik macht mich auch nicht wirklich froh, @benkenobi:disqus … Umso mehr freue ich mich über beide Kommentare (cc @matthiasjanen:disqus )
PIlatus fragte ja schon: „Was ist Wahrheit?“ – aber ich möchte nicht religiös argumentieren sondern eher mit Watzlawick: „Es gibt nicht DIE Wahrheit – es gibt immer eine Art von Wahrheit.“ Ich weiß nicht, welche Wahrheit der Spiegel dann in Zukunft nicht mehr fürchten möchte, aber ich vermute stark es ist eine die er sich selbst konstruiert. Aber das muss dann nicht unbedingt wirklich meine sein.
Ad Astra
Im Besitz der Wahrheit zu sein, ist eine Illusion. Aber sich der Wahrheit zu nähern, Tatsachen zu recherchieren, Zusammenhänge zu erkennen und zu vermitteln, sich über verschiedene Perspektiven auf die Wirklichkeit auszutauschen, all das bedeutet, keine Angst vor der Wahrheit zu haben. Sich dabei zu irren und zu korrigieren, und auch davor keine Angst zu haben, ist eine Grundtugend von Journalisten, in Zeiten der Digitalisierung noch mehr als in den Zeiten der analogen Überheblichkeit.
Dem stimme ich zu @cordtschnibben:disqus ich bringe all das aber nicht mit dem Satz „Keine Angst vor der Wahrheit“ zusammen
„Keine Angst davor haben, die Wahrheit zu suchen (auch wenn ich sie nicht finde)“, so verstehe ich den Claim, Sie lesen: „Wir kennen die Wahrheit und fürchten uns nicht vor den Konsequenzen“, das eine ist ein dialektischer Prozeß, das andere überhebliche Angeberei
Alles klar, wenn man es so interpretiert, sehe ich einen positiven Grund für den Slogan. Ohne die Hilfe habe ich es aber so nicht gesehen – was dann vermutlich gegen die Schlagkraft des Slogans spricht …
Sehe ich anders. Ich glaube ja, dass viele den Slogan leider nicht mehr richtig verstehen wollen oder können – weshalb es dringend an der Zeit wird, dass man ihn wieder automatisch so versteht, wie er gemeint ist (und aus meiner Sicht auch automatisch verstanden werden sollte). Die Suche nach der Wahrheit, das Streben nach der Wahrheit, der Versuch, der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen – das ist für mich eine der Grundvoraussetzungen für guten Journalismus. Gerade wir Journalisten sollten den aus meiner Sicht sehr(!) guten Spiegel-Slogan daher auf Anhieb richtig verstehen. Meine 50 Cent.
Äh nein, ich will nicht „sollen“ und schon gar nicht „gerade als Journalist“!
[…] ich mich vergangene Woche ein wenig über den Wahrheits-Anspruch beim Spiegel wunderte, lief ich heute an diesem Wahrheits-Poster des Stern vorbei. Es ist weit weniger […]