Man stelle sich einmal vor, die Sängerin Lena Meyer-Landrut, der Friseur Udo Walz, die Schwimmerin Franziska van Almsick und viele weitere Prominente würden sich kurz vor einer Wahl zusammenschließen und eine deutliche Empfehlung aussprechen, wem sie ihre Stimme geben. Genau das ist passiert. Bei der Bundestagswahl 2017. Als Wahlempfehlung für die CDU und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Es ist davon auszugehen, dass Merkels Nachfolgerin im Amt der CDU-Vorsitzenden diese Kampagne kennt, die man auf der Website unterstuetzt-merkel.de im Internet nachlesen kann. Trotzdem ist Annegret Kramp-Karrenbauer am Montag vor die Presse getreten und hat heftig kritisiert, dass sich Menschen im Europawahlkampf zusammengeschlossen und im Internet „Meinungsmache“ betrieben haben. Wörtlich sagte sie: „Die Frage stellt sich schon mit Blick auf das Thema Meinungsmache, was sind eigentlich Regeln aus dem analogen Bereich und welche Regeln gelten eigentlich für den digitalen Bereich, ja oder nein.“ Darüber wolle sie jetzt sprechen, nicht nur in der CDU, sondern auch in der „demokratietheoretischen Diskussion der nächsten Zeit“. Kramp-Karrenbauer erweckt damit den irrigen Eindruck, es gäbe Redebedarf zu dem Thema und der habe irgendwas mit der völlig unsinnigen Unterscheidung zwischen Analog und Digital zu tun – ganz so als sei dies „demokratietheoretisch“ nicht seit ziemlich genau 70 Jahren sehr genau geregelt: durch Artikel 5 des Grundgesetzes.
Das ist nicht nur „demokratietheoretisch“ schockierend: Die Regel, die hier gilt, heisst Meinungsfreiheit und hat nichts mit dem völlig unsinnigen Unterschied zwischen digital und analog zu tun https://t.co/DPlYqswIc0
— Dirk von Gehlen (@dvg) May 27, 2019
Nun ist nicht davon auszugehen, dass Annegret Kramp-Karrenbauer gegen die Merkel-Unterstützern aus dem Internet vorgehen will. Ihre Einlassungen vom Montag richten sich vielmehr an Menschen, die so etwas wie die Gegenposition zu Lena Meyer-Landrut, Udo Walz und Franziska von Almsick ins Netz gestellt haben. Sie heißen Rezo, Dagi und LeFloid. Sie haben kurz vor der Europawahl einen Aufruf veröffentlicht, in dem sie dazu auffordern, auf keinen Fall die CDU zu wählen (und die SPD auch nicht). Im Sinne der Freiheit der Andersdenkenden handelt sich bei diesen Menschen um die Andersdenkenden der CDU.
Dass der CDU-Vorsitzenden das nicht gefällt ist verständlich. Dass sie darauf reagiert, indem sie über Regeln zur Meinungsmache debattieren will, ist inakzeptabel. Denn diese Regeln sind off- wie online längst geklärt: Es gilt das Recht auf Meinungsfreiheit – sogar dann, wenn Menschen sich herausnehmen, anderer Meinung zu sein als eine Regierungspartei. Genau darin zeichnet sich der Wert einer Demokratie aus: auszuhalten, dass es andere Meinungen gibt. In der CDU scheint diese Fähigkeit gerade nicht besonders ausgeprägt zu sein. Die dünnhäutigen Einlassungen hochrangiger CDU-Politiker mit Blick auf junge Wählerinnen und Wähler belegen dies – und geben ihnen auf sehr ironische Weise recht: Diese Partei scheint tatsächlich nicht die zu sein, bei der ihre Stimmen gut aufgehoben sind.
Kramp-Karrenbauers Worte schaden aber nicht nur dem Image der Union. Sie schüren den Verdacht, dass es hier jemand nicht ernst meint mit den Grundrechten. Das darf nicht passieren, diesen Verdacht muss sie bald möglichst und sehr viel deutlicher als bisher ausräumen. Denn wenn die Frau, die Bundeskanzlerin werden will, tatsächlich das grundlegende Recht auf freie Meinungsäußerung diskutieren will, wenn ein paar junge Menschen davon Gebrauch machen, möchte man sich nicht ausmalen, wie sie reagiert, wenn mehr auf dem Spiel steht als ein paar Prozentpunkte für die CDU.