Was ist das Besondere am Journalismus im Web? Folgt er anderen Regeln? Gelten die Ansprüche an Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und Richtigkeit hier nicht mehr oder anders? Nein, Journalismus im Web unterscheidet sich zuvorderst durch eine scheinbar banale, aber in Wahrheit revolutionäre Erkenntnis: Der Leser wird zum Nutzer. Natürlich nicht alle, aber diejenigen, die zu aktiven Rezipienten werden, bilden dies auch öffentlich ab. Das früher im Stillen verlaufende Feedback wird öffentlich. Nutzer-Reaktionen erreichen selber wieder eine Leserschaft. Beispielhaft sei hier auf den Fall Matthias Dittmeyer hingewiesen: Der damals 21-Jährige konfrontierte Politikmagazine von ARD und ZDF im Jahr 2007 mit diesem zehnminütigen gefilmten Leserbrief, der bei YouTube fast 1,5 Millionen Mal angeschaut wurde:
Dabei geht es mir hier nicht um die inhaltliche Debatte über Computerspiele, das Beispiel zeigt vielmehr, welche Bewegung aktive Leser erzeugen können. Natürlich gilt diese Tendenz nicht für alle Leser. Es spricht aber viel dafür, dass die 90-9-1-Regel von Jakob Nielsen stimmt. Sie lautet:
In most online communities, 90% of users are lurkers who never contribute, 9% of users contribute a little, and 1% of users account for almost all the action.
Es wäre falsch aus dem geringen Anteil der aktiven Nutzer den Schluss zu ziehen, dass diese keine Auswirkungen auf den überwiegenden Teil der eher passiven Teilnehmer haben würden. Denn zum einen generiert die Aktivität der wenigen selber wieder eine Öffentlichkeit und zum zweiten werden auch die 90 passiven Prozent eingebunden bzw. binden sich selber aktiv ein. Für das Seminar, das ich im Sommersemester an der Uni Hohenheim gehalten habe, habe ich dies anhand der Begriffe Benutzung und Beteiligung festzuhalten versucht:
Benutzung: Informationen werden zeitsouverän genutzt, Informationen werden kontextsouverän genutzt, Informationen werden weiterverwendet
Beteiligung: Der Nutzer wird kommentierend, fotografierend, als Informationsquelle und zählbare Stimme eingebunden.
Wer sich also auf die Gegebenheiten des Netzes einlassen will, muss anerkennen:
1. Leser werden zu Nutzern und
2. Journalisten und ihre Leser treten in einen Dialog.
Das ist zwar ein technisch neuer Prozess, dass dieser aber bereits in der Entstehung des Zeitungswesens angelegt war, lässt sich bei Robert Eduard Prutz im Jahr 1845 nachlesen.
Wenn Medien dies erkennen, haben sie – so meine Einschätzung – nicht nur einen großen Schritt in Richtung gegenwärtiger Kommunikation getan, sie sind auch auf dem Weg zur Eröffnung eines Lesermarkts im Netz vorangekommen. Sie müssen – das ist meine erste Krisen-These – den Leser ernst nehmen und einbinden.