Dieser Text ist Teil der Mai-Folge meines monatlichen Newsletters „Digitale Notizen“, den man hier kostenlos abonnieren kann. Er basiert auf meiner Vorlesung im Rahmen der Reihe „Digitale Textpraxis und Radikalisierung“ am Literaturinstitut in Hildesheim.
Wenn wir über die Qualität öffentlicher Debatten sprechen, gibt es eigentlich nur eine Richtung: schlechter! Dass jemand öffentlich auf eine Bühne tritt und die Fortschritte lobt, die wir als Gesellschaft im Führen öffentlicher Debatten machen, habe ich noch nicht beobachtet. Dabei könnte man durchaus loben, dass Öffentlichkeit(en) heute zugänglicher, breiter und vielleicht sogar demokratischer sind als im 20. Jahrhundert.
Aber für ein solches Lob ist kaum Platz im aktuellen Narrativ über öffentliche Debatten. Und auch ich habe es im Rahmen der Ringvorlesung „Digitale Textpraxis und Radikalisierung“ diese Woche in Hildesheim nicht genutzt. Ich habe aber direkt zu Beginn darauf hingewiesen, wie das „schlechter“-Narrativ in vielen Bereichen zu einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung wird. Das liegt zum einen an der Kraft der Erzählung, die ich bereits in meinem Essay zur Glut-Theorie der öffentlichen Debatte erwähnt habe. Es liegt aber auch daran, dass die Wahrnehmung des Werts öffentlicher Debatten nicht unabhängig ist von unserer Erwartung. Der Sinnspruch wonach Energie sich dorthin bewege, wohin wir unsere Aufmerksamkeit richten, hat einen wahren Kern: Wir bemerken etwas dort, wohin wir schauen. Und wenn wir Bestätigung für den Niedergang suchen, dann finden wir diese auch.
Auch deshalb lohnt es sich, besondere Aufmerksamkeit auf unsere Aufmerksamkeit zu legen – was ich mit Hilfe der „Wesentlich weniger“-These für die Welt der digitalen Praxis anhand eines konkreten Beispiels versucht habe zu zeigen (siehe unten Punkt 3)
Meine optimistische These zum Radikalisierungs-Narrativ: Vielleicht wird die Gesellschaft gar nicht radikaler. Vielleicht haben wir vielmehr (durch die Demokratisierung der Publikationsmittel) eine bessere Wahrnehmung für Polarisierung und Radikalisierung entwickelt. Und diese wahrgenommene Radikalisierung basiert unter anderem auch auf memetischen Mustern im digitalen Ökosystem. Diese besser zu verstehen, ist also auch ein Teil digitaler Medienkompetenz.
Wie diese Muster das Gefühl stimulieren, auf der richtigen Seite zu stehen, habe ich im Essay von der Glut-Theorie beschrieben. Sie vermitteln dein Eindruck von Orientierung in unübersichtlichen Situationen: Gerade weil man nicht weiß, wie man auf die Herausforderungen der Klimakrise oder der weltweiten Kriege reagieren soll, entfaltet das gute Gefühl auf der richtigen Seite zu stehen besondere Wirkung. Memes („kreative Ausdrucksformen mit vielen Beteiligten, durch die kulturelle und politische Identitäten kommuniziert und verhandelt werden“) und memetischen Mustern verstärken diese „Die vs. Wir“-Haltung.
Steffen Mau nennt die Profiteure dieser Konfrontation „Polarisierungs-Unternehmer“. Sie nutzen die Trigger-Punkte gesellschaftliche Debatten für so genannte Affekt-Politik, die Meinung zu einem nicht verhandelbaren Ausweis der eigenen Identität macht. Trigger-Punkte heißt Maus Buch, über dessen Kern-Erkenntnis er im SZ-Gespräch sagt: „Was meine Kollegen Thomas Lux und Linus Westheuser und ich in den Befragungen und Daten beobachten konnten, war zunächst einmal, dass es keine tiefe gesellschaftliche Spaltung im vorpolitischen Raum gibt. Die Einstellungen und Meinungen zu zentralen Themen wie Klimawandel, Armut und Reichtum, Diversität und Gender und Migration liegen im Großen und Ganzen recht nah beieinander. Es gibt allerdings radikalisierte Ränder und eine von ihnen ausgehende Dynamik, die Spaltungen provozieren will und kann. Soll heißen: Die Gesellschaft ist nicht gespalten, aber es wird gerade fleißig versucht, sie zu spalten.“
Darauf aufbauend lässt sich analysieren, dass der Versuch der Spaltung dort besonders erfolgreich ist, wo Debatten nicht mehr als Wettstreit der Ideen geführt werden, bei dem es Kompromisse geben kann, sondern in Form von Meinungs-Modeschauen inszeniert werden, bei denen Meinungen wie Memes vorgeführt – und zur Identifikation und Distinktion genutzt werden. Der Widerspruch dient dabei nicht mehr als Gegenargument auf dem Weg zum Kompromiss, sondern als Anfeuerung der eigenen Position – am Beispiel der Debatte ums rosa Fußballtrikot kann man sagen: „Widerspruch ist die beste Werbung“.
Um meine optimistische These aus Hildesheim zu untermauern, habe ich fünf Vorschläge für eine bessere Streitkultur formuliert, die helfen können nicht nur zu einer anderen Wahrnehmung von Debatten zu kommen, sondern auch ganz konkret anders zu debattieren:
1. Öffentlichkeit gibt es im 21. Jahrhundert nur im Plural
Am Beispiel von Leah Haltons Videos, das unbestritten öffentlich (750 Millionen Views), aber dennoch nicht Teil klassischer Medien ist (hier ausführlich beschrieben) lässt sich zeigen, wie unserer Idee von Öffentlichkeit im Wortsinn pluralisiert wird. Die Idee der singulären Bühne, auf der sich Öffentlichkeit abspielt, wird abgelöst von einer Entwicklung, die ich „Das Ende des Durchschnitts“ nenne. Viele Debatten über Debatte kranken daran, dass sie in der digitalen Welt des 21. Jahrhundert noch immer mit dem Öffentlichkeitsbild des 20. Jahrhunderts argumentieren.
2. Aufmerksamkeit ist eine politische Entscheidung
Aufgeklärtes Handeln wird sich in digitalen Öffentlichkeiten zunehmend in der Fähigkeit zeigen, bewusst darüber zu entscheiden, wohin du deine Aufmerksamkeit verschenkst. Es ist Ausdruck mündigen Handelns, selbst zu entscheiden, womit du dich befasst und was du ignorierst. So verstanden kann Filtersouveränität ein wichtiges Ziel von Medienkompetenz-Schulungen werden.
3. Toleranz heißt Aushalten
Am Beispiel der Kommentarflut unter einem absichtsvoll falsch ausgesprochenen Avocado-Video habe ich illustriert, wie sehr Cunninghams Gesetz („Der beste Weg, eine korrekte Antwort im Internet zu bekommen, ist nicht eine Frage zu stellen, sondern eine falsche Antwort auf die Frage zu schreiben.“) auch politische Debatten prägt. Nicht jeder Provokation nachzugeben und den Widerspruchs-Reflex zu unterdrücken, kann Ausdruck demokratischer Kompetenz sein: Ich kann aushalten, dass jemand etwas Falsches ins Internet schreibt.
4. Im Zweifel für den Zweifel
Carolin Emcke rät in ihrem Buch „Was wahr ist“ dazu, „dass wir uns durchlässig erweisen für die Wahrheit, dass wir zulassen, verändert zu werden.“ Ich finde das eine sehr treffende Formulierung für meine Wunsch, Wahrheit als Verlaufsform zu verstehen – und die Bereitschaft zur Meinungsänderung als zentrale demokratische Fähigkeit zu stärken. Emcke schreibt:„Ganz gleich, wie brutal die Anfechtungen von außen auch sein mögen, ganz gleich, wie übermächtig die Gegner auch wirken mögen – es darf nicht dazu führen, selbst zu verhärten, selbst orthodox oder dogmatisch die eigenen Positionen gegen Kritik oder Zweifel zu immunisieren. Es braucht immer noch und immer wieder ein Zögern.“
5. Entpört Euch!
Viktor Frankl sagt: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“ Diese Freiheit, nicht reflexhaft auf Affekt-Politik zu reagieren, ist Ausdruck zivilisierter Debatten. Dazu ist es meines Erachtens wichtig zunächst die Muster memetischer Meinungen zu durchbrechen und zum zweiten, die Emotionalisierung der Debatte zu bremsen. Carolin Emcke schreibt: „In der Öffentlichkeit der Gegenwart drängt sich gelegentlich der Eindruck auf, Gefühle seien grundsätzlich unantastbare, pseudo-sakrale Autoritäten. (…) Da ist auch eine grotestke Infantilisierung am Werk, die uns zu unmündigen Untertanen des Affekts machen will.“
Im Januar 2020 schrieb ich hier über die Empörung der anderen. Der Impuls von damals ist weiterhin richtig: „Wer wirklich einen Unterschied machen will, muss sich also mit dem Gedanken anfreunden, dass es nicht reicht, einfach nur recht zu haben. Ich muss anfangen, den Empörungskreislauf zu durchbrechen.“
Dieser Text ist Teil meines monatlichen Newsletters „Digitale Notizen“, den man hier kostenlos abonnieren kann. Er basiert auf einem Vortrag am Literaturinstitut Hildesheim, wo ich übrigens in ein Lehrauftrag auch über Memes sprach.