Ein Vuja-de für die grüne Zukunft (Digitale Juni-Notizen)

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Dieser Text ist Teil der Juni-Folge meines monatlichen Newsletters „Digitale Notizen“, den man hier kostenlos abonnieren kann!
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Nur der, der sich die Gegenwart auch als eine andere denken kann als die existierende“, hat der Philosoph Theodor W. Adorno mal gesagt, „verfügt über eine Zukunft.“ Ich musste an dieses Perspektiv-Spiel von Gegenwart und Zukunft denken als ich dieser Tage den heimlichen Mitschnitt dessen sah, was Winfried Kretschmann über die Zukunft der Mobilität sagt. Kretschmann ist Ministerpräsident in Baden-Württemberg und in dem kurzen Clip erläutert er, warum er es für unvorstellbar hält, dass die Neuzulassung von Verbrennungsmotoren in Autos nur noch bis 2030 möglich sein soll (danach müssten auch die in seinem Bundesland ansässigen Autohersteller auf andere Antriebe umgestellt haben). Die Grünen haben diese Begrenzung für Neuwagen mit Verbrennungsmotoren für das Jahr 2030 auf ihrem Parteitag beschlossen. Für Kretschmann sind das „Schwachsinns-Termine“ kann man in dem Clip hören – über dessen fragwürdige Entstehung der Kollege Stefan Braun alles Relevante bei der SZ notiert hat.

Viel wichtiger als die Entstehung des Clips ist mir aber die Tatsache, dass Winfried Kretschmann sich offenbar keine andere Gegenwart (an deutschen Tankstellen) vorstellen kann als die existierende. Er erklärt in einer kurzen Sequenz, dass sein Hauptargument gegen den Plan sei, dass er keine Ahnung davon hat, wie die Fahrzeuge betankt aufgeladen werden sollen: „Jetzt überlegt dir mal: Es fahren fünf Millionen Elektroautos rum. Wo tanken die? Jetzt nimm mal eine ganz normale Tankstelle wie wir sie heute haben. Wir haben an großen Tankstellen vielleicht Platz für zehn Autos, die da auf einmal tanken können. Jetzt dauert das bei denen aber zwanzig Minuten. Jetzt! Wie soll das funktionieren?

Mal abgesehen davon, dass die Studien zur Elektromobilität den Verdacht nahelegen, dass Autos effektiv ohnehin so wenig bewegt werden, dass sie problemfrei in der Nacht am heimischen Stellplatz betankt geladen werden könnten. Und ebenfalls abgesehen davon, dass neue Technologien nicht fertig sind, sondern sich immer weiter entwickeln: Diese Analyse von Winfried Kretschmann ist nicht deshalb interessant, weil sie parteiinterne Streitereien offenlegt. Diese Aussagen des baden-württembergischen Ministerpräsidenten sind so interessant, weil sie für einen Mangel an etwas stehen, was Robert Musil mal „Möglichkeitssinn“ genannt hat. Realo sein, heißt für Winfried Kretschmann offenbar vor allem nach dem Motto zu denken: Gibt’s nicht – geht nicht. Oder etwas breiter: Ich lasse mir mein Bild auf die Gegenwart doch nicht von anderen Möglichkeiten in der Zukunft kaputt machen.

Polina Flegontovna

Diese Ansicht ist derzeit weltpolitisch traurig populär. Dass man sie aber auch bei einem der wichtigeren Grünen-Politiker und dann ausgerechnet im Bereich Umweltpolitik findet, ist erschütternd. Man ist fast froh, dass die Sache mit dem Atomausstieg von der Kanzlerin in die Hand genommen wurde (*zwinkersmiley*), denn womöglich wäre Kretschmann noch ein super Argument für den Erhalt von Atomkraftwerken eingefallen: Es gibt ja schon welche (*traurigerZwinkersmiley*)

Weil Winfried Kretschmann sich keine Lösung für die Frage vorstellen kann, wie Elektroautos betankt geladen werden können, sollen weiterhin (also auch nach 2030) Fahrzeuge neu zugelassen werden, die bewegliche Trump-Gefährten sind. Denn so muss man nach dem vom US-Präsidenten angekündigten Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen (ebenfalls in diesem Monat) das Zitat von Kretschmanns Parteikollegen Oliver Krischer interpretieren. Der grüne Fraktionsvize im Bundestag hatte im vergangenen Herbst gesagt:„Wenn wir das Pariser Klimaabkommen ernst nehmen, dürfen nach 2030 keine Verbrennungsmotoren mehr neu auf die Straße.“

Aber was ist das Klimaabkommen schon gegen Winfried Kretschmanns Idee einer Tankstelle?

Die im doppelten Sinn deprimierende Antwort lautet: weit weg! Denn die Tatsache, dass wir unseren „Wirklichkeitssinn“(Musil) zum Maßstab erheben, ist kein Problem, das die Grünen alleine haben. Wir neigen als Menschen dazu, unsere eigenen Vorstellungen und Prägungen zu übersehen. Winfried Kretschmann hält vermutlich sogar aus guten Absichten die heutige Form einer Tankstelle für maßgebend – und er ist damit kaum anders als die meisten anderen. Wir alle haben Prägungen, die dazu führen, dass wir Dinge und Gegebenheiten für richtig und wahr halten, die vielleicht nur Meinungen sind (siehe dazu „Ich bin am Wahrheiten“). Besonders anschaulich hat dies in diesem Monat Phil Laude am Beispiel des Fidget Spinners dargelegt. Denn im Umgang mit diesem kleinen Kreisels greifen auch bei eher jungen Menschen Mechanismen in der Beurteilung des Neuen, die erstaunlich sind.

Weil es diese Mechanismen eben bei jungen Facebook-Fans genauso gibt wie bei grünen Ministerpräsidenten, schreibe ich gerade an einem Buch, das Gründe für einen gelassenen Umgang mit dem Neuen aufzählt. In der Recherche bin ich dabei auf ein Bild gestoßen, das vielleicht auch Winfried Kretschmann helfen könnten. Es handelt sich um ein umgedrehtes Deja-Vu. Damit wird eine Beobachtung beschrieben, von der man den Eindruck hat, man habe sie schon einmal erlebt. Ein Vuja-De hingegen dreht diesen Eindruck genau um: Es geht also darum, eine bekannte Sache eben genau so zu betrachten, als sei sie vollkommen neu. Robert Sutton hat diese Idee in seinem Buch „Weird Ideas That Work“ angestoßen – und damit nahezu eine Innovationsschule begründet. Jedenfalls kann man sich vornehmen, nach dem Prinzip des Vuja-De auf Dinge und Gegebenheiten zu schauen. Man kann sich bemühen, Perspektiven einzunehmen, die einem neu und fremd sind. Und am Ende kann man so auf Ideen kommen, die man sich ganz und gar nicht vorstellen kann.

Vielleicht versucht Winfried Kretschmann es ja mal mit einem Tankstellen-Vuja-De?
¯\_(ツ)_/¯

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Dieser Text stammt aus dem monatlichen Newsletter Digitale Notizen, in dem man mir beim Denken zusehen kann.

In diesem Newsletter sind z.B. erschienen: „Was Medien vom Laufen lernen können“ (Mai), „Fairer Teilen“ (März 2017) „Streiten lernen – für ein besseres Internet“ (Januar 2017), „Digitaler Heimat- und Brauchtumsverein“ (Oktober 2016), „Ein Dutzend Ideen für die Journalistenausbildung“ (September 2016) „Kulturpragmatismus“ (Juni 2016), „Denke kleiner“ (Februar 2016 ) „Social-Media-Gelassenheit“ (Januar 2016).

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