Back in Black. Unter dieses Motto hat der VfL Bochum den Neustart in die Schlussphase der Corona-Rückrunde in der Zweiten Fußballbundesliga genannt. Es gab ein Sondertrikot, Heimtickets (mit denen man den Verein finanziell von daheim unterstützen kann) und jede Menge Diskussionen über die so genannten Geisterspiele. Ich lese jeden der Texte, die über das Verhältnis von fehlendem Publikum und dem Sport geschrieben werden, der ja im Mittelpunkt stehen sollte, aber doch ohne Fans an Bedeutung verliert. Der Zauber gehe verloren, wenn die Fans nicht da sind, habe ich gelesen und dass der Fußball ohenhin total drüber sei und eine Pause gut getan hätte. Womöglich ist beides richtig. Weil ich mich aber in den vergangenen Wochen hier viel mit dem Charakter von digitalisierten Live-Events befasst habe und den Fußball mag, hier drei Beobachtungen von diesem ersten Spieltag nach Corona. (Foto: Unsplash)
Ich bette diese ein in ein Format, das ich die Mutter aller Live-Events nennen würde: die Radioreportage beim Fußball. Ich liebe Fußball im Radio. Alles, was man über den Zauber von „Live“ und „Streaming“ wissen muss, kann man an der Radioreportage ablesen mithören. Fußball im Radio ist völlig anders als der Besuch im Stadion oder die Übertragung von TV-Bildern. Fußball im Radio schafft ein eigenes Ereignis, das ohne das Geschehen auf dem Rasen nicht möglich wäre, sich von dem aber maximal weit entfernt. Bei mir war das heute die Distanz vom Ruhrstadion in Bochum bis zum Olympiastadion in München. Während an der Ruhr Grönemeyers Loblied auf die Stadt ins leere Stadion gespielt wurde, lief ich durch den Olympiapark und hörte mir die Radioreportage im Live-Stream bei Amazon an. Ich hörte spürte diese lautlose Leere, die von den Geisterspielen ausgeht, die aber auch ein lauter Sehnsuchtsruf ist: der kindliche, naive Wunsch, dass all dieser Scheiß vorüber gehen soll. Wenn jetzt! sofort! bitte! schon nicht möglich ist, dann soll wenigstens die Erinnerung daran helfen, wie es vor ein paar Tagen war, die doch so unglaublich weit weg sind: als das ganze Stadion mitsang.
Ich habe diese Form des Sport-Machens und der gleichzeitigen Sport-Teilnahme in den vergangenen Jahren als perfekte Symbiose meiner Radio- und Laufbegeisterung lieben gelernt. Denn wenn Guido Hüsgen über das Geschehen in Bochum spricht, fühle ich mich auf eine erstaunliche Weise sportlich verbunden (und sogar angetrieben), vergesse dabei aber, dass ich in München laufe (was mir eines der nobleren Ziele des langen Laufens zu sein scheint, wie ich in der ersten Staffel vom Minutenmarathon beschreiben werde). Wenn dann der tollere Verein noch drei Treffer erzielt, wird der Lauf zu einer großen Freude. Denn in Wahrheit ist das Spiel eben trotzdem nur eine Nebensache (wenn auch die schönste der Welt). Im Sport ist diese Beobachtung zu einer bedeutsamen Fußballreporter-Floskel geworden, ich glaube sie gilt aber auch darüber hinaus für Live-Events:
1. Das Live-Event ist stets mehr Beiwerk als uns bewusst ist
Es ist dies vermutlich der blindeste Fleck von Menschen, die Inhalte erstellen: Der Inhalt ist wichtig, aber eben nur ein Bestandteil einer größeren Komposition. Wir gehen auf ein Konzert oder zu einer Lesung natürlich wegen des Inhalts, den die Künstler*innen auf der Bühne zeigen, aber eben nicht nur. Wir gehen auch wegen der Freundinnen und Freunde, um andere Menschen zu sehen, ein Bier zu trinken, uns auszutauschen. Der Inhalt fügt sich im besten Fall möglichst beiläufig in das soziale Event ein. Der gestreamten Lesung oder dem virtuellen Konzert fehlt diese Beiläufigkeit oft noch. Das Live-Event im Web will immer die ganze Aufmerksamkeit. Für Moderationen und Workshops ist das ein großer Vorteil, bei jeglicher Form der Kunst steht sich die Kunst damit so sehr im Weg, dass sich kein Zauber verbreiten kann. Deshalb nutzen manche Künster*innen zum Beispiel auf Twitch die Let’s play-Dynamik, die man vom Live-Event „ich schau anderen beim Computerspielen zu“ kennt.
2. Social ist viel wichtiger als gedacht Dass Fußball irgendwie geisterhaft wirkt, wenn kein Publikum zuschaut, bestätigt nicht nur die These von der Beiläufigkeit, sondern beweist: ohne den sozialen Austausch verliert das Hauptevent die Attraktivität. Erst der soziale Kontext macht den Content wertvoll. Wir haben in den vergangenen Jahren unter dem Schlagwort Social Media gelernt, wie Medien „social“ wurden, gerade lernen wir durch den Verzicht auf Fans, wie social die Inszenierung Fußball ist. Live-Events sind wie oben beschrieben schon immer Ort des sozialen Austauschs. Leider ist der digitalen Entsprechung bisher nur selten eine entsprechende soziale Komponente geglückt.
3. Die Prägung ist häufig bedeutsamer als die Möglichkeit Helge Schneider hat unlängst in einem Facebook-Video angekündigt, nicht im Live-Stream oder vor Autos auftreten zu wollen. So lange die physische Distanz Auftritte klassischer Prägung nicht zulasse, wolle er lieber gar nicht auftreten, weil ihm bei allen neue Varianten der soziale Austausch fehle. Das ist erstaunlich, weil nahezu alle, die ich für den Online-Only-Fragebogen sprach, lobten, dass der digitale Chat eine neue ganze andere Form des Austauschs ermögliche. Wir haben diese noch nicht richtig verstanden und ihre Möglichkeiten noch nicht richtig nutzen gelernt, aber der Austausch ist schon da. Wir erkennen ihn auch deshalb nicht, weil wir immer mehr auf das schauen, was wir gewöhnt sind als auf das, was die nächste Generation für normal hält.
Für das Dilemma, in dem der Fußball gerade steckt, ist das keine Lösung, deshalb tröste ich mich mit dem schönen Lauf (samt gutem Ergebnis), den ich heute hatte. Alles andere bleibt im Ungewissen: wir fahren auf Sicht.
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Dieser Beitrag ist Teil einer kleinen Serie hier im Blog, die sich mit Streaming und Video-Konferenzen befasst. Dazu sind erschienen:
> Interview mit Jasmin Schreiber von Streamkultur
> Shruggie des Monats: Der Live-Stream
> Zehn Lehren aus der Coronakrise für Videokonferenzen und Live-Streams
> Performance-Künstler Marcus John Henry Brown über die Herausforderung, Menschen im Stream zu halten
> Social-Media-Experte Michael Praetorius über Workshops im Stream
> Pfarrerin Miriam Hechler über Gottesdienst im Stream
> Museums-Experte Maximilian Westphal über Führungen im geschlossenen Museum
> DJ Ivo Schweikhardt übers Auflegen im Stream
> Autor Pierre Jarawan über Workshops zum Kreativen Schreiben im Stream
> Musikerin Maria über Musikunterricht im Stream
> Denny Leo Kinder über Friseure im Stream
> Wolfgang Tischer über Lesungen im Stream
> Die Therapeuten Imke Herrmann und Lars Auszra über Therapie im Stream
> Lehrer Philippe Wampfler über Unterricht im Stream
> Autor Tom Hillenbrand über Krimis auf Twitch
> VHS-Chef Christof Schulz über Volkshochschule im Stream
> Zukunftsforscher Gerd Leonhard über die Zukunft von Live-Events und Live-Streams
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1 Kommentar
[…] Ich stand zum Beispiel am 7. März letztmals dicht an dicht mit anderen Fußballfans in einem Stadion. Das liegt nur ein paar Wochen zurück, aber das Gefühl sagt: Ewig her! Geisterspiele, physische Distanz, Masken, Vergangenheit. Seufzen: Verklärung! […]