Sollte ich mich auf die Suche nach den Journalisten des Jahres 2015 machen, ich müsste auch mal im Team von Michaël Jarjour nachfragen. Der Redaktionsleiter von Blendle-Deutschland verschickt seit vergangenem Jahr einen täglichen Newsletter, der Werbung für den Bezahldienst Blendle (itunes für Journalismus) ist, aber auch eine gut kuratierte Presseschau derjenigen Medien, die man über Blendle lesen kann. Eine besondere journalistische Stilform, die meiner Einschätzung nach an Bedeutung gewinnen wird, als Arbeitsgebiet für Journalisten aber manchmal vergessen wird.
Nicht nur weil ich diese Auswahl mit Freude lese (hier mein Blendle-Account), habe ich mich mit Michaël in den vergangenen Monaten immer wieder ausgetauscht und ihm ein paar Fragen zu seinem Job gemailt. Hier sind seine Antworten zum Kuratieren im Journalismus
Seit Blendle in Deutschland gestartet ist, liest Du mit deinem Team täglich was in Deutschland publiziert wird und wählst gute Geschichten aus. Wie lang braucht ihr um jeden Tag alles zu lesen?
Wir sind ein Team von fünf Leuten und wir arbeiten an sieben Tagen der Woche. Lesen ist natürlich nicht das einzige, was wir tun, aber der Großteil unserer Arbeit.
Und: ist das mehr Spaß oder mehr Qual?
Ach das ist großartig! Es ist ein richtig gutes Gefühl, für unsere Nutzer ein Problem zu lösen. Nämlich ihnen zu helfen, in der Informationsflut gute Geschichten zu entdecken, die wirklich wertvoll sind. Es gibt kein besseres Gefühl, als über ein Stück zu stolpern, das so richtig gut ist. So eins, das du nicht mehr vergisst. Weil du nach dem Lesen etwas verstanden hast, das du schon immer wissen wolltest, oder eines, das etwas in Worte fasst, die du nie gefunden hast. Oder halt eines, das richtig Spaß macht. Es gibt nichts Schöneres!
Ich persönlich mag Eure täglich Auswahl sehr, sie hilft mir, mehr Texte zu lesen als vorher. Aber es gibt auch Leute, die das reine Auswählen nicht als Journalismus verstehen. Seht Ihr Euch als Journalisten?
Das freut mich echt sehr, dass wir von dir und von sehr vielen unserer anderen, weniger prominenten Nutzer*innen, geschätzt werden. Mein Team und ich sehen uns absolut als Journalisten. Wie jeder andere unserer Kollegen, sortieren wir Informationen — in unserem Fall Artikel — gewichten sie und geben sie an unsere Leser*innen weiter, so dass diese sie nutzen können. Die Flughöhe ist anders als am Newsdesk oder auf Reportage, aber der Vorgang ist ähnlich. Ich sehe uns aber auch als Dienstleister. Journalisten haben es in den vergangenen Jahren sträflich vernachlässigt, nützlich zu sein oder den Nutzen ihrer Arbeit zu erklären. Das tun wir jeden Tag und lernen dabei selbst sehr viel über guten Journalismus.
Und vermisst du das selber Schreiben manchmal?
Ja. Vor allem das Radio machen. Aber dafür gibt’s bei Blendle manchmal Ferien.
Wo lernt man Kuratieren/Auswählen?
Wir lernen sehr viel von den Zahlen. Die zeigen uns genau, was wie oft gelesen wird. Aber die spannendste Zahl ist für mich die Rückgaberate. Auf Blendle kann man Artikel zurück geben, wenn sie nicht gefallen und erhält dann sein Geld zurück. Diese Zahl schaue ich so genau an wie keine andere. Wenn also ein Artikel stark geklickt und kaum zurückgegeben wird, haben wir unsere Arbeit gut gemacht. Wenn sie stark geklickt wird, aber oft zurückgegeben, haben wir das richtige Thema gewählt. Aber vielleicht den falschen Artikel. Oder wir haben den richtigen Artikel nicht gut genug angeteasert, zu unklar formuliert. In dieser Zahl steckt die ganze Enttäuschung, die in den vergangenen Jahren im “Online-Journalismus” entstanden ist. Dass man genötigt wird, zu klicken, weil Informationen zurückgehalten werden. Wir arbeiten genau am Gegenteil. Unsere Leser*innen sollen ganz genau wissen, was sie kriegen. Denn sie bezahlen Geld dafür. Und sie haben die volle Kontrolle, es wieder zurück zu verlangen. Das, glaube ich, macht unsere Arbeit besser, aber künftig hoffentlich auch die Arbeit von schreibenden Journalisten und Journalistinnen.
Worauf muss man achten?
Wir wollen unseren Leser*innen die Möglichkeit geben, nicht nur mitreden zu können, sondern zu den aktuellen Themen auch wirklich etwas zu sagen zu haben. Das Wichtigste ist für uns, für unsere Leser*innen nützlich zu sein. Ich liebe kuratierte Produkte wie Techmeme oder Mediagazer. Auf die kann ich mich verlassen, sie sind effizient und sie sind ehrlich.
Euer Chef hat unlängst angekündigt, dass Blendle im Bereich Discovery einiges im neuen Jahr plant. Werdet Ihr als auswählende Journalisten dann überflüssig?
Natürlich nicht. Ich liebe dieses Projekt, an dem ich selbst mitarbeite. Wir haben bei Blendle einzigartige Einblicke dazu, welchen Journalismus Leser*innen mögen und für welchen sie bereit sind, Geld auszugeben. Ein Beispiel ist die Rückgaberate, von der ich vorher erzählt habe. Es wäre irrwitzig diese wertvolle Information nicht strukturiert zu nutzen. Das Redaktionsteam wird aber weiterhin für die Auswahl der Artikel zuständig sein. Wir werden dann nur dafür sorgen, dass unser Algorithmus die Artikel den richtigen Menschen zeigt. So bekommen wir die Möglichkeit, auch Nischenthemen zu behandeln und nicht nur massentaugliches. Das ist ein riesiger Vorteil und das können nur wir. Diese Angst davor, unnütz zu sein ist viel zu verbreitet im Journalismus. Davon müssen wir wegkommen und die Technologien so mitgestalten, dass sie unsere Arbeit als Journalisten besser machen.
Welches war deine Lieblings-Geschichte, die du 2015 empfohlen hast?
Ach, es gab so viele gute Geschichten. Zwei, die mich besonders beeindruckt haben: Eine aus dem Cicero, ein Magazin, das ich vorher nie gelesen habe, weil es einfach zu schwer war, ran zu kommen. Ich war da noch im Ausland. Die Geschichte heißt “War ich zu hart, Edmund?” und rekonstruiert die Tage vor und nach der Rede von Putin an der Münchner Sicherheitskonferenz 2007. Sehr informativ, so gut recherchiert und geschrieben. Wenn er da schreibt, dass der ganze Saal erstarrte, und John McCain säuerlich grinst, und Putin mehr oder weniger seine ganzen Pläne offenlegte — super stark. Gibt’s hier auf Blendle. Eine andere, die mich sehr beeindruckt hat, und die ich so schnell nicht vergessen werde, war aus der Zeit: “Die Hölle, das ist der andere” hieß die. Da geht es um zwei Al-Kaida-Geiseln, die in der gleichen Zelle eingesperrt waren, und sich dort zu hassen lernten. Geschrieben hat die Bastian Berbner. Er lässt die beiden einfach erzählen. Die hatten vorher noch nie zusammen ein Interview gegeben. Er hat mit beiden einzeln gesprochen, und ihre Erzählungen dann hochdramatisch zusammengestellt. So! unglaublich! gut! (Gibt’s hier mittlerweile kostenlos.)
Mehr zum Thema Kuratieren als Journalismus: ein Interview mit Ronnie Grob, der jahrelang die Rubrik „6 vor 9“ beim Bildblog betreut – und für den gerade dieser Tage ein Nach-Nachfolger gesucht wird.
In eigener Sache: "6 vor 9"-Macher gesucht! https://t.co/n0mzO5GVCt
— BILDblog (@BILDblog) 11. Januar 2016
2 Kommentare
Ich denke, Du liegst sehr richtig, was die wachsende Bedeutung der kuratierten Newsletter betrifft. Zumindest kann ich das aus eigener Erfahrung bestätigen. Der tägliche Mix aus Dave Pells „NextDraft“ (schon seit mehreren Monaten), dem Social Media Blog (ebenso lange) und seit neustem der automatisierten Zusammenstellung von Nuzzel (da bin ich doch durch dein Blog bzw. den Newsletter draufgekommen, oder?) ist endlich das, was die automatischen Empfehlungen von z.B. Instapaper oder der üblichen täglichen Newsletter, wie z.B. dem von Wired.de, den ich heute dann auch abbestellt habe,mal versprochen haben.
Ich verstehe zwar nicht genau, wie sich die Angebote monetarisieren lassen, aber als reiner Konsument ist mir das auch erst mal wurscht (abgesehen davon, dass ich natürlich hoffe, dass es die trotzdem lange gibt). In einzelnen Fällen habe ich zur Unterstützung auch schon Geld überwiesen und könnte mir auch tatsächlich vorstellen, solche Angebote dauerhaft zu unterstützen/kostenpflichtig zu abonnieren.
Blendle habe ich noch nicht ausprobiert, aber zumindest die erwähnte tägliche Presseschau wird jetzt mal als Einstieg getestet.
[…] einem Interview in seinem Blog fragt Dirk von Gehlen Michaël Jarjour, den Redaktionsleiter von Blendle, ob sich […]