Kopieren kapieren (Digitale November-Notizen)

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Dieser Text ist Teil der November-Folge meines monatlichen Newsletters „Digitale Notizen“, den man hier kostenlos abonnieren kann.
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Der Titel dieses Beitrags ist mehr als ein schönes Wortspiel. „Kopieren kapieren“ ist die semantische Übertragung eines musikalischen Phänomens, das die Popkultur seit einigen Monaten auf erstaunliche Weise beschäftigt: Interpolation – der sich Arte hier, Deutschlandfunkkultur hier und der unbedingt empfehlenswerte Podcast „Switched on Pop“ hier gewidmet haben. (Symbolbild: Unsplash)

Dabei handelt es sich um eine besonders interessante Spielart der Kopier- und Referenzkultur. Anders als bei einem Sample, bei dem eine Sequenz eins-zu-eins aus der Original-Aufnahme kopiert wird, wird bei der Interpolation die Vorlage nachgespielt – meist mit einer kleinen Abwandlung. Zum Beispiel durch den Tausch eines Vokals direkt nach dem ersten Buchstaben: „Kopieren kapieren“ ist aber nicht nur Symbol für eine der jüngsten Spielarten der Referenzkultur, es ist auch der Imperativ der digitalen Gegenwart.

Durch die historische Ungeheuerlichkeit der digitalen Kopie wurden erst die Daten von ihrem Träger gelöst und anschließend das vormals passive Publikum durch die Demokratisierung der Publikationsmittel zu aktiven Teilnehmer:innen an jener segmentierten Gesamtheit, die wir als Öffentlichkeit kannten. Wer sich für Kommunikation und die grundlegenden Veränderungen der strukturgewandelten Öffentlichkeit(en) interessiert, muss sich mit dem Phänomen der Kopie befassen – und zwar auf eine Art und Weise, die über klischeehafte Abwertung der vermeintlich minderwertigen Tätigkeit hinaus geht. Kopieren ist zur zentralen Kulturtechnik der Gegenwart geworden – allerdings ohne, dass der allgemeine Diskurs dazu mitgekommen wäre bzw. Einigkeit oder Wissen über die dazu notwendigen Fähigkeiten bestehen würde. Deshalb ist „Kopieren kapieren“ Angebot und Appell zugleich.

Die Forscher David und Diana Zulli beschreiben in ihrer Analyse „Extending the Internet meme: Conceptualizing technological mimesis and imitation publics on the TikTok platform“ das Kopieren als zentrale kulturelle Praxis auf der Plattform Tiktok. Diese von der chinesischen Firma Byte-Dance betriebene Plattform ist das jüngste und äußerst populäre Beispiel für die Kopierkultur der Gegenwart. Die Washington Post analysierte dieser Tage:

TikTok’s website was visited last year more often than Google. No app has grown faster past a billion users, and more than 100 million of them are in the United States, roughly a third of the country. The average American viewer watches TikTok for 80 minutes a day — more than the time spent on Facebook and Instagram, combined.

Tiktok erschafft etwas, was Zulli und Zulli „imitation publics“ nennen und der Begriff beschreibt ganz gut, welche kommunikationswissenschaftlichen und soziologischen Schlüsse ich aus der Kopierkultur des digitalen Zeitalters ziehen würde. Deshalb hier – völlig unabhängig vom aktuellen Erfolg von Tiktok und dessen geopolitischer Bewertung – die fünf Aspekte dessen, was hinter dem Hype steckt.

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Dieser Text stammt aus dem monatlichen Newsletter Digitale Notizen,
in dem ich mich immer wieder mit der Remix- und Referenzkultur des Digitalen befasse.
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Fünf grundlegenden Entwicklungen, die begründen, weshalb man kopieren kapieren sollte:

1. Ohne Aufmerksamkeit ist alles nichts

Wie sich das Verhältnis von Aufmerksamkeit zu Inhalt verändert hat, lässt sich kaum besser illustrieren als mit dem Zitat des DJ-Duos „Partyshirt“, die über peinliche Situationen das hier gesagt haben: “Everything’s cringey until it gets views” Früher ging man davon aus, dass Dinge so lange nicht cringey (peinlich) sind wie sie nicht gesehen werden. Es gehört zur besonderen Logik digitaler Öffentlichkeit(en), dass sich dieses Verhältnis heute gedreht hat – wie auch das Zusammenspiel von Inhalt zu Aufmerksamkeit. Diese hat sich nicht geändert, sie trifft aber heute auf so viel mehr Inhalt, dass sie die wichtigere, weil wertvollere Währung geworden ist. Sie ist die Voraussetzung für jegliche Form öffentlichen Erfolgs. In Abwandlung des Partyshirt-Zitats könnte man sagen: „Alles bleibt ein Tagebuch, solange es nicht gesehen wird.“

2. Der Werk wird wertvoll durchs Netzwerk

Das veröffenltichte Werk, auch das ist für werkschaffende Künstler:innen nicht ganz leicht, gewinnt seinen Wert erst durch das Netzwerk seiner Nutzung. Nicht nur die Aufmerksamkeit, auch die weitergehende Interaktion machen die Öffentlichkeit aus. Durch das Netzwerk Internet, in dem viele miteinander verbunden sind, ist der öffentliche Raum tatsächlich ein Raum geworden – nicht mehr nur eine Rampe, über die Künstler:innen, Journalist:innen und Medien ihre Inhalte abwerfen. Der öffentliche Raum basiert auf Interaktion und Wertschätzung sowie Wertschöpfung entstehen hier durch Vernetzung. Anders formuliert: der Content (über den sich Künstler:innen definieren) braucht den Kontext (der zu weiten Teilen den Plattformen überlassen wird) um Wirkung zu erzeugen.

3. Alle sind keine Zielgruppe

Wirkung ensteht nicht mehr vor einer Hauptbühne, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Digitale Öffentlichkeiten definieren sich stattdessen an einer Entwicklung, die manb „Das Ende des Durchschnitts“ nennen könnte und segmentieren Aufmerksamkeit auf viele Nebenbühnen. Wer Wirkung erzeugen will, muss sich auf Nebenbühnen konzentrieren statt eine Hauptbühne zu suchen. Aus der Welt der Massenkultur ist eine Welt der massenhaften Nischen geworden – diese zu bespielen, ist die Voraussetzung für öffentlichen Erfolg. Gerade dann wenn man „alle“ erreichen will. Damit dies gelingt, muss man mit den Zielgruppen beginnen, die man erreichen kann.

4. Der Werk ist ein Werkstoff, der bearbeitet wird

Die Idee des einen Publikums ist ebenso überholt wie die Idee des einen abgeschlossenen Werks. Digitale Produkte sind Prozesse, niemals fertig. Sie werden zu Werkstoffen, die in Form von Remix, Interpolation oder Cover weiterverarbeitet werden. Dieses RIC erweitert den Aufnahmeknopf des 20. Jahrhunderts (REC). Referenziert zu werden ist dabei kein Diebstahl am Original, sondern hilft diesem am Leben zu bleiben. In der „Switched on Pop“-Folge lernen wir, dass Rechteinhaber:innen extra Referenz- und Kopier-Angebote machen, um ihre Werke in der Öffentlichkeit zu halten.

5. Der Zauber des Unkopierbaren entsteht in der Vernetzung

„Es gibt einen großen Unterschied zwischen einem großen Moment und einer nachhaltigen Karriere“, sagt der Musikexperte Larry Miller (Professor und Host von Musonomics) in dieser Folge des vergecast über die Zukunft der Musikindustrie. Plattformen seien gut darin, große Momente zu schaffen und singuläre Inhalte viral gehen zu lassen. Nachhaltige Karrieren hingegen sieht er bei Plattenlabels eingelöst. Ob das so ist, kann ich nicht beurteilen. Sicher ist jedoch, dass für diese Karrieren eines unerlässlich ist: die Verbindung von Star und Publikum, die Vernetzung von Künstler:innen und Zuschauer:in. Dieses Verhältnis sorgt nicht nur dafür, unkopierbare Erlebnisse (z.B. auch im Metaverse) entstehen zu lassen. Diese Verbindung bildet auch die Grundlage für den ersten Punkt dieser Liste: Sie schafft Aufmerksamkeit.

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Wer kopieren-kapieren.de möchte, kann auch mal in diese Bücher schauen:

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