In den vergangenen Tagen war (auch hier) viel von einem guten Mann die Rede, der sich selbstlos gab und teilte: Sankt Martin gibt dem frierenden Bettlersmann die Hälfte seines Mantels und wird deshalb noch heute von Laternenbeleuchten Kindern besungen. Zum Beispiel mit dem Martinslied, in dessen finaler Strophe dem Martin im Traum der Herrgott erscheint:
Der spricht: „Hab Dank, du Reitersmann,
für das, was du an mir getan.“
Es ist ganz klar: der reitende Martin wird zum Vorbild für alle Kinder. Er sieht die Not des anderen und teilt. Er gibt von dem, was er hat, damit auch der Bettler etwas bekommt.
Soweit die Martins-Moral. Was aber, wenn diese nicht im Kinderlied, sondern im realen Leben Anwendung findet? Was, wenn die singenden Kinder die gelernte Moral vom Teilen auch im Digitalen ernst nehmen? Hier können sie zwar keinen Mantel teilen, aber zum Beispiel eine MP3-Aufnahme vom Martinslied. Das Tolle dabei: Sie teilen es, ohne selber weniger zu haben. Sie haben also eine Lösung, die noch viel besser ist als die vom Martin (denn dass er selber nur noch einen halben Mantel hat, kann niemand ernsthaft als die optimale Lösung beschreiben wollen). Doch im Traum tritt in diesem Szenario nicht der Herrgott, sondern der Abmahnanwalt auf
Der spricht: „Unterlasse nun, du Diebesmann,
was du dem Rechteinhaber hast angetan.“
Nicht nur das Versmaß ist darin ganz korrekt, auch die zugrunde liegende Moral ist einem Kind (und nicht nur dem) nur schwer vermittelbar.
Dabei ist mir durchaus bewusst, dass der Vergleich hinkt, die moralischen Implikationen sind aber dennoch vergleichbar: Teilen und teilen ist nicht das Gleiche. Und merkwürdiger Weise soll das Teilen, bei dem beide nur die Hälfte haben, das besserer Teilen sein.
Heute vormittag musste ich ein Auto in der Innenstadt parken. Ich löste am Parkautomaten ein Ticket für zwei Stunden Parkzeit. Nach einer Stunde war mein Termin zuende, ich stieg in mein Auto und gab den Parkplatz wieder frei. Das Parkticket habe ich an den Automaten geklemmt, weil es schließlich noch gültig war. Darf ich das? Darf jemand das von mir gelöste Ticket weiterparken? Mache ich mich damit starfbar?
Die Tatsache, dass ich mir die Frage in diese Richtung stelle, zeigt, wie stark der (falsche) moralische Einfluß bereits ist. Denn wenn wir überhaupt übers Stehlen nachdenken in einem Bereich, bei dem niemandem etwas weggenommen wird, ist doch die einzig berechtigte Frage, die wir uns stellen sollten: Darf die Stadt diesen Platz nun eigentlich erneut vermieten? Oder begeht sie einen Diebstahl an mir, denn ich habe ja schließlich für die volle folgende Stunde noch bezahlt und damit Anrecht auf den Parkplatz – und sei es, um ihn autofrei zu halten …
Vielleicht sollte ich mal Dr. Erlinger fragen.
1 Kommentar
Richtig. Wir brauchen eine Schärfung der alten Begriffe, vielleicht sogar neue Begriffe, sicherlich aber eine neue Nomenklatur, um solche evidenten begrifflichen Probleme zu lösen (das hast Du ja schon öfters formuliert).
Teilen, schenken, stehlen, Eigentum. Damit könnte man mal anfangen.