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Dieser Text ist Teil der Oktober-Folge meines monatlichen Newsletters „Digitale Notizen“, den man hier kostenlos abonnieren kann.
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Bevor man einordnen kann, was diese Bundestagswahl jetzt wohl zu bedeuten habe, sollte man vermutlich abwarten, welches Ergebnis sie wirklich zu Tage gefördert hat. Noch wird in Berlin sondiert und taktiert, dennoch erlaube ich mir, hier einen halbfertigen Gedanken aus dem „Digital-Viral-Germany“-Post etwas weiter zu denken. Er handelt von dem Grad der Veränderung, die aus der Wahl hervorgehen wird. Er handelt von dem Mut, sich auf Neues und Unbekanntes einzulassen und er handelt vom Erwartungsmanagement derjenigen, die sich Wandel wünschen.
Beginnen wir mit dem Veränderungswillen: diejenigen, die bei der #btw21 (Tommi Schmitts Vorschlag BuTaWa hat sich leider nicht durchgesetzt) erstmals wählen durften, haben sich mehrheitlich für die Parteien entschieden, die heute ein Selfie posteten. FDP und Grüne haben bei den Erstwähler:innen gewonnen. Die tagesschau führt dies in einer Analyse mit Einschätzungen des Politikwissenschaftlers Uwe Jun auf die Themen Corona und Digitalisierung zurück – und auf den Wunsch, dort eine Alternative zur Großen Koalition zu unterstützen:
Die Corona-Krise habe die Schwächen in den Bereichen Bildung und Digitalisierung gnadenlos offengelegt – davon profitiere die FDP nun. Zudem seien die Gemeinsamkeiten mit den Grünen in diesen Bereichen recht hoch, so dass die Chancen auf eine Umsetzung in den bevorstehenden Sondierungs- und Koalitionsgesprächen laut Jun gar nicht so schlecht stünden.
Das Bild, das heute durchs Netz gereicht wurde, gibt diesen Chancen ein Gesicht. Ich glaube, dass es zu einem langfristigen Symbol für den Wunsch nach einer Alternative zur Politik der GroKo werden kann. Es liefert in all seinen Rahmendaten die Voraussetzungen für ein den Tag überdauerndes Motiv: Bildkomposition, die Kleidung sowie die Position der Personen, die scheinbar beiläufige Aufnahmesituation – all das macht aus dem Schnappschuss einen Startschuss. „Wir sind bereit für Veränderung“ sagt alles an dem Bild – „für den kleinsten Grad an Veränderung“ möchte man ergänzen.
Denn bei allem Aufbruch, den FDP und Grüne mit dem Selfie erzeugen wollen, muss man auch festhalten: Zusammen kommen die beiden Fraktionen nur auf 14 Sitze mehr als die SPD, die als Wahlsiegerin gilt. Denn anders als bei den Erstwähler:innen ist der Wunsch nach Veränderung in der Gesamtbevölkerung bei weitem nicht so ausgeprägt. Der Veränderungswunsch, den man aus diesem Wahlergebnis lesen kann, geht so:
Die Partei, die seit 16 Jahren in Deutschland die Regierung anführt, wird vermutlich von der Partei abgelöst, die aktuell den Vizekanzler stellt und von den vergangenen sechs Regierungen an fünf beteiligt war.
Ich glaube diese Form der „Wechselstimmung“ (Anführungszeichen mit Absicht gesetzt, Symbolbild: Unsplash) lässt sich vermutlich am besten als: Minimal Possible Change (MPC) bezeichnen. „Wenn es denn sein muss“, sagt dieses Wahlergebnis zum Thema Veränderung. Es ist Ausdruck von großer Vorsicht; als Fortbewegungsart ist es eher ein vorsichtiges Tasten als ein schwungvoller Gang. Die Sorge etwas zu verlieren, ist stets größer als der Wunsch etwas zu gewinnen.
Die gegenteilige Haltung, die ich gerne als Möglichkeitssinn bezeichne, drückt sich vor allem darin aus, dass man positiv auf die Frage antwortet: Kann es (noch) besser werden? Die deutschen Wähler:innen haben darauf äußerst vorsichtig „vielleicht“ geantwortet. MPC ist so gelesen der allerkleinste Bruder des Möglichkeitssinn.
Das kann man beklagen oder gut finden, ich möchte es aber vor allem bemerken: denn wichtiger als das Urteil scheint mir die Schlussfolgerung, die man aus dieser geringen Veränderungsbereitschaft für all die Projekte ziehen kann, die etwas bewegen wollen: MPC bestimmt das Erwartungsmanagement, lenkt den Blick auf die langfristige Veränderung und führt auf das Prinzip des „leistbaren Verlusts“ wie es die Methode Effectuation nennt. Wer gelernt hat, mit dem MPC umzugehen, braucht keine Mondreden, keine Visionen oder langfristige Bilder, sondern den zupackenden Pragmatismus dessen, was den MPC kurzfristig gestaltet und in die Tat umsetzt.
Egal, welche Folgen aus dem Wahlergebnis vom Sonntag entstehen, für mich war allein diese Erkenntnis wertvoll, denn auch wenn MPC eine englische Abkürzung ist, sie scheint ein sehr deutsches Phänomen zu beschreiben.
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Dieser Text stammt aus dem monatlichen Newsletter Digitale Notizen, in dem ich öffentlich über Themen nachdenken, die mich beschäftigen. Hier habe ich schon mal über den Unterschied zwischen kurz- und langfristigen Veränderungen nachgedacht. In dem Buch „Das Pragmatismus-Prinzip“ habe ich den Umgang mit dem Neuen – und auch die Methode Effectuation beschrieben.
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