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Die Netzkulturcharts sind ein völlig subjektives Ranking netzkultureller Phänomene, die ich auffällig finde. Sie erscheinen monatlich als Teil meines Newsletter „Digitale Notizen“ und umfassen besondere Accounts, Memes und Ideen, die ihren Ursprung im Netz haben, sich mit dem Internet befassen bzw. so nur im Netz aufkommen können. Der Begriff „Netzkultur“ ist dabei bewusst offen und der zeitliche Bezug kann schlicht daran liegen, dass mir dieses Phänomen erst in dem Monat aufgefallen ist. Die Charts aus den Vormonaten stehen hier.
Vorschläge gerne per Mail an mich oder auf Twitter @dvg oder Instagram @dvg mit dem Hashtag #netzkulturcharts.
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Platz 1: Nina Chuba 🆕
Im Wikipedia-Artikel zu Nina Chuba fehlt ihr größer Erfolg noch komplett. Dass sie im August 2022 erst Tiktok und dann die Charts mit einem Loblied auf ein alkoholisches Wildbeeren-Getränke stürmte, steht auch in diesem Zeit-Campus-Porträt nicht, das sie „als Zukunft des Deutschrap“ bschreibt. „Wildberry Lillet“ ist quasi die Blaupause eines Tiktok-Hits. Die Sequenz: „Ich will Immos, ich will Dollars, ich will fliegen wie bei Marvel Zum Frühstück Canapés und ein Wildberry-Lillet“ geisterte schon ein paar Wochen vor Single-Veröffentlichung durch die Plattform und wird mit einer openversechallenge am Laufen gehalten. Dabei rappen andere Nutzer:innen Strophen mit Hilfe der Duett-Funktion gemeinsam mit Nina. Gemeinsam haben sie Nina und ihre „Immos“ auf Platz 1 der deutschen Single-Charts geschoben – vorbei an Layla.
Platz 2: #dancewithsanna 🆕
Dass in der öffentlichen Beurteilung politischer Arbeit sehr merkwürdige Standards angelegt werden, hat die Guardian-Kolumnistin Arwa Mahdawi am Beispiel der tanzenden finnischen Regierungschefin Sanna Marin lesenswert illustriert: „You don’t have to squint to see the sexist double standards involved in this “scandal”. Boris Johnson having an unknown number of children with multiple women? Well, that’s just Boris being Boris. Donald Trump paying large sums of money to a pornography star? Boys being boys. A woman dancing with a few of her friends in a living room, though? DRUG TEST THE WITCH!“ Dass Marin dennoch in den Netzkulturcharts des Monats August gelandet ist, liegt an zahlreichen jungen Frauen, die sich im Netz mit ihr solidarisiert haben – und unter #dancewithsanna Tanzvideos hochgeladen haben.
Die Videos sind ein weiterer Beleg für die Glut-Theorie der öffenltichen Debatte, die sich hier um die Frage dreht: Auf welcher Seite stehst tanzt du?
Platz 3: Girl Explaining 🆕
Das da rechts auf dem Bild sind Denise „Dinu“ Sanchez und ihr damaliger Freund Alfre vor einem Club namens „Chau Che Clu“ in Claromeco (Buenos Aires). Die beiden befinden sich im Bildhintergrund, Denise spricht auf dem Bild nicht, sondern singt ihrem Freund einen Song ins Ohr. Aber schon 2019 wurde dieser Bildausschnitt im spanischsprachingen Web aus dem Zusammenhang gerissen – und als weibliche Variante des Mansplaning-Meme „Bro Explaining“ gelesen. Seit Beginn dieses Monats sind Denise und Alfre auch im englisch- und deutschsprachigen Web sehr präsent. Der Spiegel hat unlängst sogar probiert, ein Interview mit Denise zu führen, die dann vorschlug dafür bezahlt zu werden und wird jetzt nicht in den Genuß kommen, ein Spiegel-Gespräch über die Frage zu führen, ob sie den Milk-Club in Edinburgh kennt, wo eines der Bro-Explaining-Motive aufgenommen wurde.
Platz 4: Deutschband-Memes 🆕
Ein verhältnismäßig kleiner Instagram-Account verbindet zwei der schöneren Netztrends der vergangenen Jahre zu einer besonderen musikalischen Parodie: Bilder aus dem Kontext zu reißen, schenkte uns vor ein paar Jahren schöne Bilder des jungen Kurt Cobain mit der Zeile „Otto Waalkes“. Diese Kontextbrüche bringt Deutchband-Memes mit dem „deutsche xyz“-Meme der vergangenen Jahre zusammen. Dabei werden internationale Phänomeme auf Deutschland runtergerechnet (beim Otto-Bild würde dort „Deutsche Kurt Corbain“ auf dem Foto stehen & eine Deutsche Blockchain ist dann so). Deutschband-Memes zeigt also falsche Bilder mit falschen Zeilen – und macht damit richtig Spaß.
Platz 5: Millennial Pause 🆕
Generationen-Themen sind äußerst beliebt im Social-Web. Eltern und Kinder spielen das in unterschiedlichen Aspekten täglich durch. Aber auch die Frage, ob du dich als GenZ, Boomer oder Millenial definierst, kann viele Beiträge provozieren. Einen besonders schönen hat in diesem Monat Kate Lindsay im Atlantic verfasst. Denn bei ihrer Millenial-Pause-Beobachtung geht es nicht nur um Generationen-Fragen, sondern um einen kultur-technische Aspekt des sozialen Web: machen Millenials aufgrund früherer Aufnahme-Möglichkeiten bei Selfie-Videos immer eine kleine Pause bevor sie starten? Es lohnt sich, mal drauf zu achten…
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🎶Ungebetene Ohrwürmer des Monats🎶
1. Nina Chuba „Wildberry Lillet“
2. Tom Odell – Another Love
3. Miksu/Macloud x makko – Nachts wach
4. Nicky Youre, dazy Sunroof
5. Gayle – abcdefu
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Besondere Erwähnung:
Das irische Baby, das aussieht wie Woody Harrelson hat erst Internet-Ruhm und mediale Reichweite und dann ein Gedicht vom US-Schauspieler bekommen. Herzlichen Glückwunsch!
Meine Begeisterung an den Tagebüchern von Thomas Mann auf Twitter hält an – auch andere Menschen scheinen an dieser neuen Aufbereitung von klassischen Inhalten Gefallen gefunden zu haben. Jedenfalls hat er jemand Thomas Bernhard auf Twitter übersetzt.
Und irgendjemand hat den FDP-Chef Christian Lindner sehr ernst genommen und die URL Gratismentalität reserviert.
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Die Netzkulturcharts sind eine subjektive Rubrik aus meines Newsletter „Digitale Notizen“. Mehr über Netzkultur in meinem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“. Die Platzierungen der Vormonate sind hier nachzulesen.
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