Was geht online? Die Netzkulturcharts sind meine völlig subjektive Antwort auf diese Frage. Ich liste darin Phänomeme auf, die ich inspirierend, interessant oder bemerkenswert finde. Sie sind regelmäßiger Bestandteil meines Digitale Notizen-Newsletters.
Der Begriff „Netzkultur“ ist dabei bewusst offen und der zeitliche Bezug kann schlicht daran liegen, dass mir dieses Phänomen erst in dem Monat aufgefallen ist. Die Charts aus den Vormonaten stehen hier.
Mehr Netzkultur gibt es auch in dem Instagram-Account @kommemetare
Platz 1: Rhababer-Barbara
Das zum Ende des Monats dominierende Thema des memefizierten Kampfs um den Song „L’amour tourjours“ (siehe Platz 2) hat leider etwas verdrängt, wie erfolgreich Bodo Wartke und Marti Fischer zu Beginn des Monats mit ihrem Song „Rhababerbarbara“ waren – und damit die Netzkulturcharts anführen. Vor acht Monaten hatten die beiden Zungebrecher einen Song veröffentlicht, der innerhalb der vergangenen Wochen durch Tanz-Challenges viral ging – und zwar weltweit: „Zwei Australierinnen entwickelten einen passenden Tanz zu dem Song und mittlerweile tanzen Menschen auf der ganzen Welt zu diesem Zungenbrecher“, berichtet der RBB. Das lief so gut, dass die beiden jetzt sogar einen zweiten Teil veröffentlicht haben.
Platz 2: L’amour toujours
Das Thema ist natürlich weit mehr als ein netzkulturelles Thema – die Verbreitung nutzt aber memetische Muster. Deshalb gehört der Ohrwurm auf Platz 2 der Charts im Mai – mit Verweis auf meine Einordnung hier. Spätestens seit dem Sylt-Video ist klar, wie der Song zu einem rechten Meme wurde. Bemerkenswert sind daran mindestens zwei Aspekte in Bezug auf die Netzkulturcharts: Zum einen der Versuch, den Ohrwurm zurückzuerobenen. Zum zweiten die Frage, wie Volksfeste wie das Oktoberfest (München) oder der Wasen (Stuttgart) darauf reagieren – ist die Ankündigungen, den Song erst gar nicht zu spielen, die richtige Reaktion?
Platz 3: Bürotechnik vom Balkon-Ultra
Mehr als 100.000 Accounts folgen @derbalkonultra auf Tiktok. Dort zeigt sich der junge Mann wie er allein auf einem Balkon stehend Fußball-Hymnen nachsingt – alleine. Das ist so faszinierend, dass sein „Pyrotechnik ist doch kein Verbrechen“ als Sound sehr aktiv genutzt wurde auf Tiktok. Was dem Erfolg sicher zuträglich war: die automatische Übersetzung kannte das Wort Pyrotechnik nicht und untertitelte den Balkon-Gesang stets mit dem Wort „Bürotechnik“.
Beides zusammen sorgte für so viel Aufmerksamkeit, dass gerade erst Ski Aggu eine schöne Bürotechnik-Referenz veröffentlicht hat. Jetzt soll Anfang Juni eine echte Lied-Version des Songs herauskommen soll.
Platz 4: Man in Finance
Megan Boni hat einen Plattenvertrag. Das ist an sich noch keine Erwähnung in den Netzkulturcharts wert. Die Tatsache aber, dass sie diesen Plattenvertrag einem viralen Video zu verdanken hat, hat sie auf Platz vier gebracht. Es geht um eine Sequenz, die sie als Girl on Couch auf Tiktok gepostet hat – über die Stereogum urteilt: „The joke was that the song, now known as “Man In Finance,” is not a song. It has literally no music. It’s just Boni chanting a phrase over and over, and you can imagine a dance beat behind it.“ Mittlerweile ist Man in Finance nicht nur ein Song, sondern auch ein viraler Hit, der zur Remix-Vorlage wurde.
Platz 5: Man könnte meinen…
Dass Sprüche zumal auf deutsch memefiziert werden, kommt nicht so oft vor. Allein deshalb verdient das „Man könnte meinen…“-Meme eine Chartplatzierung. Denn die Filme, die stets mit dem namensgebenden Satz beginnen, sorgen für so großen viralen Erfolg auf Tiktok, dass Ideengeber Tilltravels nicht nur seinen Account in „Man könnte meinen“ umgenannt, sondern seit ein paar Tagen auch einen Song auf den Markt gebracht hat. Der wiederum folgt dem Muster seiner Clips, die mit dem Zoom auf die Rückansicht eines LKW begannen. Dabei hört man den Satz „Man könnte meinen, es ist ein LKW, aber es ist ein EL KW“ – zu sehen ist dann das entsprechende Kennzeichen des Fahrzeugs.
Man könnte meinen, es ist nur eine kleine Spielerei – aber ich finde: es ist eine sehr tolle Spielerei ;-)
🎵 Ungebetene Ohrwürmer* des Monats 🎵
1️⃣ Bodo Wartke mit Marti Fischer „Rhababerbarbara“
2️⃣ Aditotoro & Paulomuc „Füllkrug“
3️⃣ Raffaella Carra, DJ Jaxomy, Agatino Romero: „Pedro“
4️⃣ Gigi D’Agostino „L’amour Toujours“ – vor allem in der Version von Marti Fischer
5️⃣ YG Marley „Praise Jah In The Moonlight“
* in dem Buch „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ nutze ich Ohrwürmer als Metapher um die Wirkung von Memes zu beschreiben. Deshalb ist es nur konsequent, sie nicht nur metaphorisch, sondern eins-zu-eins zu nehmen.
Besondere Erwähnung
Wie viel kostet eigentlich Eiscreme gerade im Vereinigten Königreich? Zuviel! Die Ansicht vertreten jedenfalls die achtjährigen Zwillinge Marnie und Myrah aus Burnley – und zwar so typisch britisch, dass sie damit eine virale Tiktok-Sensation gelandet haben. Ihre Tante filmte den Wutausbruch – und verhalf den beiden zu webweiter Bekanntheit.
Ein wichtiges Thema in diesem Monat: die Lieblings-Challenge, bei der zwei Menschen vor einem filmenden Handy weglaufen – und sich gegenseitig Aufgaben stellen, die sie dem Handy beantworten. Hier eine Version der Dresdner Band 01099, hier eine von Alex, hier Paulo und Paul.
Beeindruckend finde ich, wie der Münchner Musiker Cascar-Music seine Songs auf Tiktok bekannt macht. Gemeinsam mit Ludwig bedient er sich einer Film-Mechanik, die die beiden „Loopwig“ genannt haben. Sie bringen dabei die durch Hochformat-Clips populäre Form des Loops (Film läuft so rund, dass das Ende direkt in den Anfang übergeht) auf ein neues Level: Denn der namensgebende Ludwig taucht in den Clips immer wieder an überraschenden Stellen auf.
Wie beeinflussen Plattformen eigentlich die Inhalte, die auf ihr ausgespielt werden? In der New York Times gibt es eine lesenswerte Analyse über die Muster, die Mr. Beast empfiehlt – und wie genau der Bruch Erfolg befördert.
Zu der Frage übrigens im Blick behalten: Wie Google gerade das Web verändert.
Bei der Reporterfabrik hat understanding-Tiktok-Experte Marcus Bösch einen Workshop zum Thema TIktok für Medienhäuser gegeben.
Wie Tiktok sich mit älteren Zielgruppen verändert? Eine Analyse
Wie Tiktok die Popmusik verändert? Eine Analyse von Ariana Zustra im kaputmag
Warum schauen alle die Tiktoks von Leah Halton? Eine Analyse aus dem Meme-Newsletter.
Spätestens seit meinem eigenen Blink „Wesentlich weniger“ mag die ich die Plattform Blinkist. Deshalb zwei Lektüre-Tipps – der New Yorker widmet sich der Seite und im Subscribe-Now-Newsletter von Lennart Schneider schreibt Maike Berndt von Blinkist einen Gastbeitrag.
Der Spiegel erfüllt meiner Einschätzung nach die Aufgabe, Netzphänomene schnell und gut einzuordnen, derzeit am besten. Nicht nur haben sie (siehe Netzkulturcharts im April) Levi porträtiert und Tara-Louise Wittwer eine Kolumne gegeben – sie haben auch ganz aktuell das Phänomen des „All Eyes On Rafah“-Bildes schnell und gut erklärt.