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Der Shruggie des Monats ist eine von meinem Buch „Das Pragmatismus-Prinzip“ inspirierte Rubrik meines monatlichen Newsletters (den man hier kostenlos bestellen kann). Darin beschreibe ich Personen, Ideen und Begebenheiten, die mir besonders passend zur Hauptfigur aus dem Buch „Das Pragmatismus-Prinzip“ erscheinen – dem ¯\_(ツ)_/¯.
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Wer es einfach mag, wird den folgenden Satz mögen: „Es gibt Menschen, die Harry Potter mögen und Menschen, die sich nicht für Harry Potter interessieren.“ Bis vor ein paar Monaten dachte ich (eher Gruppe zwei), dass das stimmt. Aus unterschiedlichen Gründen bin ich auf eine merkwürdige halbe Weise in die Welt von Harry Potter gezogen worden und habe damit diese binäre Trennung gesprengt. Ein Grund dafür ist u.a. der wirklich sehr lustige Podcast „Fünf Minuten Harry Podcast“ von Coldmirror, der so lustig ist, dass ich deshalb weiß, welche Rolle der sprechende Hut in der Zauberer-Geschichte hat.
Der sprechende Hut ist eine magische Macht, die die Schülerinnen und Schüler der Zaubererschule Hogwarts in ihre Häuser zuteilt. Er wird den Schülerinnen und Schülern auf den Kopf gesetzt und ermittelt dann auf magische Weise welchen Weg die Schülerinnen und Schüler gehen sollen. Coldmirror vergleicht diesen Hut mit einer Erfindung aus einer Black Mirror-Folge:
Das ist ein super-mächtiger Gegenstand, der auch empfindungsfähig ist und die geballte Intelligenz der Hogwarts-Gründer in sich vereint – und der wird einfach nur ganz casual zum Sortieren benutzt. Der kann sich anscheindend auch nicht selber bewegen, er wird rumgetragen und aufgesetzt. Er wird nur einmal im Jahr zum Sortieren rausgeholt und liegt sonst nur die ganze Zeit im Büro im Schrank. Was ist das für ein Dasein?
An diese Frage musste ich denken als ich in diesem erstaunlichen Blogtext (via Kopfzeiler) das Bild las, der Algorithmus (von Tiktok) sei wie der sprechende Hut aus Hogwarts:
TikTok’s algorithm is the Sorting Hat from the Harry Potter universe. Just as that magical hat sorts students at Hogwarts into the Gryffindor, Hufflepuff, Ravenclaw, and Slytherin houses, TikTok’s algorithm sorts its users into dozens and dozens of subcultures. Not two FYP feeds are alike.
Ich finde dieses Bild ist auf zahlreichen Ebenen so stark, dass es sich lohnt, einen Moment innezuhalten: Algorithmen als sprechenden Hut zu verstehen, eröffnet vielleicht einen neuen besseren Blick auf all die Fragen, die sich zum Beispiel in der Algorithmen-Ethik stellen.
¯\_(ツ)_/¯
Eugene Wei beschreibt diesen sprechenden Hut in seiner langen und lesenswerten Tiktok-Analyse als die zentrale Besonderheit an dem Dienst, der gerade wegen zahlreicher anderer Dinge in der Debatte ist (zu den geopolitischen Fragen empfehle ich diese Analyse aus The Atlantic)
Der sprechende Hut von Tiktok ist in der Lage, Menschen in Häuser einzusortieren ohne dass diese dafür selbst anderen Accounts folgen müssen. Was der Stuhl in Hogwarts ist, ist in Tiktok die so genannte For You Page (Details zu Tiktok zum Beispiel hier), auf der Inhalte auf eine Weise personalisiert werden, die auch eher widerstrebenden Häusern Subkulturen das Gefühl gibt, hier heimisch werden zu können:
To help a network break out from its early adopter group, you need both to bring lots of new people/subcultures into the app—that’s where the massive marketing spend helps—but also ways to help these disparate groups to 1) find each other quickly and 2) branch off into their own spaces.
More than any other feed algorithm I can recall, Bytedance’s short video algorithm fulfilled these two requirements. It is a rapid, hyper-efficient matchmaker. Merely by watching some videos, and without having to follow or friend anyone, you can quickly train TikTok on what you like. In the two sided entertainment network that is TikTok, the algorithm acts as a rapid, efficient market maker, connecting videos with the audiences they’re destined to delight. The algorithm allows this to happen without an explicit follower graph.
Daraus ergeben sich Schlussfolgerungen für Inhalte-erstellende und -konsumierende Menschen oder um es etwas größer zu machen: für Medien und die Gesellschaft.
Menschen, die für diesen Hut Algorithmus Inhalte produzieren (also: die Medien) sind dabei lediglich austauschbare Lieferanten, mit deren Hilfe Interesse gesammelt und gehalten werden kann. Wie die Schülerinnen und Schüler in Hogwarts bringen sie natürlich selbst etwas mit (der Hut liest angeblich die Gedanken und trifft die Entscheidung auf dieser Basis), aber darum geht es in Wahrheit gar nicht wie Ian Bogost in The Atlantic festhält:
… just as the Viners who vanished when Twitter shut down that service did, or the YouTubers who were demonetized, or the Tumblrers who were banned. No matter how liberating or delightful the posts feel, content creators are also puppets of the platform owners, who in turn vie for temporary dominance over one another.
Menschen, die sich diese Inhalte vom Hut Algorithmus sortieren lassen (also die Gesellschaft), werden dadurch nicht nur selbst sortiert (über die Spaltung der Gesellschaft ist hinlänglich gesprochen worden), sie stehen langfristig vielleicht auch vor einem völlig neuen Gesellschaftsbild. Denn noch lebt das Gespräch über Social-Media-Networks von der Annahme, dass der Streit dort darauf basiert, dass polarisierte Gruppen aufeinandertreffen und streiten. Folgt man Eugene Weis Hut-Theorie könnte sich diese Form der Gesellschaftswahrnehmung durchaus ändern. Ich muss ja vielleicht gar nicht mehr sehen, was mich stört
Just as importantly, by personalizing everyone’s FYP feeds, TikTok helped to keep these distinct subcultures, with their different tastes, separated. One person’s cringe is another person’s pleasure, but figuring out which is which is no small feat.
Wenn sich diese Prognose bewahrheitet, müsste man das Bild vom Hut, der eine öffentliche Auswahl trifft womöglich anders denken: Es ist dann eher eine im Geheimen getroffene Entscheidung, die lediglich die Häuser in ihren eigenen Gruppen wahrnehmen (siehe: Dark Social) und langfristig ein neues Gesellschaftsbild nach sich zieht. Wie nehme ich künftig noch wahr, dass es Menschen gibt, die anderer Meinung sind als ich?
¯\_(ツ)_/¯
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Der Shruggie des Monats ist eine Rubrik aus meinem Newsletter (den man hier kostenlos bestellen kann). Der Shruggie ist die Hauptfigur aus meinem Buch „Das Pragmatismus-Prinzip“, in dem ich zehn Gründe für einen gelassenen Umgang mit dem Neuen versammle. Über Gesellschaftswahrnehmung in Zeiten von Daten und Algorithmen habe ich in dem Buch „Meta – das Ende des Durchschnitts“ geschrieben. Und wer mehr über das Web und das Internet lernen will, kann dies in meinem Buch „Gebrauchsanweisung für das Internet“ tun.
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