In der aktuellen Ausgabe des Magazin Der Spiegel gibt es ein Interview mit dem Münchner Soziologen Armin Nassehi. Ich empfinde es als eine schöne Meta-Anspielung, den Hinweis auf das Interview mit einem Bild zu illustrieren, das er gepostet hat, um auf das Interview hinzuweisen.
Jetzt aber zu der Sache, über die Nassehi spricht: die Hygienedemos. Er sagt dabei einen großartigen Satz, der selbst so meta ist, dass ich den Hinweis auf das Interview inhaltlich damit einleiten muss:
Selbst in einem Interview die Relevanz der Proteste zu bezweifeln, weist paradoxerweise auf diese Relevanz hin.
Es liegt in diesem scheinbaren Paradox eine Antwort auf die Frage, wie man denn mit den Hygienedemos umzugehen habe. Klar, eine offene Gesellschaft muss es aushalten, dass Menschen sich absichtsvoll unvernünftig verhalten. Nassehi nennt dies: „Jeder hat das Recht auch auf abwegige Positionen.“ Aber muss man deshalb auch das Gespräch mit denjenigen suchen? Das geht nicht, wer das Virus leugnet oder behauptet Bill Gates habe es erfunden, entzieht sich einem rationalen Gepräch – so Nassehis Einschätzung, die der Zeit-Redakteur David Hugendick diese Woche noch etwas lustiger auf den Punkt gebracht hat.
Der Vergleich mit dem Hanuta-Habicht im literarischen Quartett bringt die „Zuhören“-Debatte perfekt auf den Punkt. Danke @davidhug https://t.co/Pfa2RqMOSx pic.twitter.com/x2vYSbdKao
— Dirk von Gehlen (@dvg) August 6, 2020
Dennoch muss man sich zu diesen Demos verhalten, zumal wenn sie digital in die Timelines und Postfächer gespült werden. Für Nassehi sind diese Proteste ein Seismograph für das tiefer liegende Problem der Gesellschaft, die Verunsicherung der Gesellschaft durch die Pandemie. Er warnt aber davon, sie zu ernst zu nehmen. Denn, so der Soziologe:
Die meisten Deutschen unterstützen die Anti-Corona-Maßnahmen, und sogar gut ein Viertel findet, dass sie nicht weit genug gehen. Neun von zehn Deutschen stimmen der Maskenpflicht zu, wie wir sie gerade haben. Wann gab es so was jemals? Auf den Corona-Demos geht es um marginalisierte Positionen.
Sich daran zu erinnern, ist vielleicht gar nicht unerheblich um einen Umgang mit den aktiven Akteurinnen und Akteuren zu finden, die digitalen Lärm für ihre Corona-leugnende Sache machen. Das Gefühl der Spaltung, das sie erzeugen wollen, ist womöglich stärker als der tatsächliche gesellschaftliche Zustand. Daran zu denken, dass neun von zehn Deutschen der Maskenpflicht zustimmen, kann ein Mittel der Gelassenheit sein, wenn irgendwo mal wieder jemand vom Maulkorb redet. Daran zu denken, dass das Narrativ der Spaltung selbst schon eine politische Perspektive ist, hilft zudem dabei, anders auf die verstörende aktuelle Lage zu schauen. Dazu nochmal David Hugendick, der Anfang der Woche twitterte:
Klar, wenn man "Die Gesellschaft" immer wieder so theatralisch als so unverbrüchlich "gespalten" beschreibt, kann man es natürlich kaum glauben, dass der Graben zwischen AfD-Wählern, Hebammen und grünen Impfgegnern gar nicht so groß ist, wenn es gegen "Maskenpflicht" geht.
— David Hugendick (@davidhug) August 3, 2020
Vielleicht stimmt es also, dass man diejenigen, die für Vernunft und Empathie noch zugänglich sind, nicht abschreiben sollte:
Wir haben vermutlich mehr gemein als uns gerade auffällt. Wir machen uns gerade beide Sorgen. Wir haben Angst, weil es so etwas wie diese Corona-Pandemie noch nie gab und wir alle nicht so genau wissen, wie es weitergeht. Diese Angst ist scheiße, aber wir können sie aushalten. Gemeinsam. Denn wir sind beide Menschen, uns verbindet die Sorge um unsere Lieben und wir wollen beide nicht, dass Menschen sterben müssen.
Update: nach dem ich diese Zeilen schrieb, wurden mir diese Bilder von einer Hygiene-Demo in Stuttgart in die Timeline gespült: Florian Schröder hat dort heute über Meinungsfreiheit gesprochen
Er beendet seine Ansprache mit den Worten: „Freiheit heißt, vernünftig sein und sich nicht verleiten lassen von falschen Propheten, die glauben die Wahrheit zu haben. Maske auf, Abstand halten, Nachdenken“
Zum Thema im Blog:
– Brief an Corona-zweifelnde Facebook-Freundinnen
– Fünf abschließende Sätze für wissenschaftszweifeldnde Hygiene-Demonstrierende
– Shruggie des Monats: Pure Vernunft darf niemals siegen