Amazon hat in der leider viel zu selten geführten Diskussion über diese Frage in diesem Monat einen interessanten Gedanken angestoßen. Der Kaufhaus-Verleger-Großkonzern hat angekündigt, ab 1. Juli sein Vergütungsmodell für Autoren im Pauschalmodell Kindle Unlimited zu verändern. Nicht mehr die Anzahl der Leihvorgänge, sondern die Anzahl der tatsächlich gelesenen Seiten soll künftig die Höhe der Ausschüttung an die Autoren bestimmen. Verkürzt wurde daraus: Autoren sollen nach gelesenen Seiten bezahlt werden, was anschließend vor allem von Leuten kommentiert wurde, die die Lesepauschale offenbar nicht nutzen.
Das tue ich auch nicht – ich habe aber zum Beispiel bei Johannes Haupt auf lesen.net nachvollzogen, warum diese Veränderung im Bezahlmodell in Kindle Unlimited – entgegen der ersten Annahme – eher Autoren von längeren Texten nutzen wird. Er berichtet von „einer Flut von relativ kurzen 99-Cent-Serial-Titeln, die bei der bisherigen Vergütungsstruktur gleich einen doppelten Vorteil hatten. Mit ihnen erreichten Autoren schneller die 10-Prozent-Marke (ab der vergütet wird), und durch das Serien-Prinzip kassierten sie bei der Lektüre des gleichen Buches durch den gleichen Leser gleich mehrfach. Lesern konnten die mehrfachen Downloads dank Flatrate egal sein; das Nachsehen hatten vor allem Autoren längerer Titel, die sich nicht auf das Splitting-Spiel einließen.“ Das will Amazon nun ändern – und eröffnete damit quasi nebenbei eine Kultur-Debatte über die Frage: Was ist überhaupt ein Buch? Die taz beklagt eine Schnipsel-Honorarmodell, die SZ sieht die Veränderung als nächsten Schritt „zum normierten Lesen“ und die NZZ fragt unkend, ob bei diesem Modell, „tatsächlich auch die beste Literatur die besten Chancen hat“.
Mich erinnerte diese Berichterstattung an die Szene, die der ehemalige FAZ-Autor Stefan Schulz Anfang Mai in seinem Vortrag Journalismus nach dem Text erzählte. Sie trägt sich in der Online-Redaktion der FAZ zu und handelt vom ehemaligen Herausgeber der Zeitung Frank Schirrmacher und von der Software Chartbeat, mit deren Hilfe man verfolgen kann, wie Webseiten genutzt werden – in Echtzeit. (Mehr über Chartbeat auch in der Arte-Dokumentation Die virtuelle Feder, in der die New Yorker Zentrale der Softwarefirma besucht wird) Chartbeat zeigt zum Beispiel an, an welcher Stelle im Text Leser aussteigen, Chartbeat macht sichtbar, wieviele Leser in einem Text sind, wohin zu klicken und woher sie kommen. „Dass es diese Software gibt und dass sie in der eigenen Onlineredaktionen den Alltag bestimmt„, erzählte Schulz, „überraschte Schirrmacher. Er rief daraufhin verantwortliche Feuilleton-Redakteure und diensthabende Online-Redakteure zu sich, um grundsätzlich zu klären, dass die Linie der Zeitung von ihren Herausgebern festgelegt wird und nicht von einer Software.“
Ob und wie die Technologie genau dabei behilflich sein kann, wird in der lesenswerten Rede nicht weiter thematisiert. Wie auch in der Berichterstattung über Amazons Seiten-Vergütungsmodell kaum die Frage gestellt wurde, ob das nicht auch Verbesserungen für das Medium Text in sich tragen könnte. Stattdessen wird relativ viel Zeit darauf verwendet, eine Frisbee-Scheibe wie einen Ball zu werfen. Mit diesem Bild habe ich die Annahme versucht zu fassen, das Digitale stets so zu behandeln wie man es von analogen Medien kennt: eine Frisbeescheibe also nicht in aerodynamischer Kreiselbewegung zu drehen, sondern flach zu werfen wie einen Ball. Das eBook wird in dieser Vorstellung stets genau so behandelt wie eine gedrucktes Buch, das man nur anders distribuiert. Dabei könnte das eBook vielleicht viel besser fliegen, wenn man versuchte seine digitalen Flugeingeschaften zu nutzen – es also zum Beispiel in Versionen zu denken, es in seine Bestandteile (Seiten) zu zerlegen oder ganz allgemein den digitalen Klimabedingungen anzupassen.
Womöglich entwickelt sich über diese technischen Veränderungen eine Erzählkultur, die vergleichbar ist mit dem Prinzip der TV-Serien, das das filmische Erzählen des Kinos erweiterte und nun allüberall gefeiert wird. Vielleicht befördert eine Verknappung eine Kultur des pointierten Erzählens, das eine Dimensionen eröffnet, die an die Tradition der Aphorismen anknüpft. Ich glaube, es könnte sinnvoll sein, sich damit zu befassen – denn hinter der Ecke wartet schon die nächste Stufe der Verknappung. Mit Lesetechnologien wie Spritz ist es möglich, Bezahlmodelle nicht auf Seiten, sondern auf Satz- bzw. Wortbasis zu realisieren (Hintergrund dazu hier)
Und an der Stelle lohnt es sich, eine Sekunde innezuhalten und nicht dem Reflex nachzugeben, der eigenen Meinung zu dieser Veränderung Raum zu geben. Viel spannender als die Frage „Wer will das denn?“ ist die Frage: „Wie kann man diese Technologie nutzen, um zu bewahren was wichtig ist?“. Und diese Frage kann man nur beantworten, wenn man Klarheit darüber hat, was wichtig und bewahrenswert ist. Das muss – darauf hoffe ich – mehr sein als die bloße Gewohnheit, ein Spielgerät halt stets wie einen Ball zu werfen. Nur weil Bücher immer so und nicht anders gedacht und gemacht wurden, ist keine ausreichende Begründung dafür, dies im neuen Umfeld auch so zu denken und zu tun. Wenn Bücher die Gefäße für das Medium Text sind, lohnt es sich, diese in ihren Möglichkeiten genauer kennenzulernen – statt sich mit dem zufrieden zu geben, was schon immer so war.
Stefan Schulz lobt in seiner Rede das geschriebene Wort und sagt: „Wollte man tatsächlich über das demokratische, verlässlichste und zukunftsträchtigste Medium etwas sagen – muss man über Schrift sprechen.“ Damit Schrift auch im Digitalen heimisch werden kann, muss man ihr helfen, sich dort einzurichten. Sie muss sich an die klimatischen Bedingungen des neuen Umfeld anpassen können, um wachsen zu können. Nicht der schlechteste Ansporn, sich mit der Digitalisierung zu befassen.
Dieser Eintrag ist Teil der Juni-Ausgabe des Newsletters „Digitale Notizen“, für den Sie sich hier kostenfrei eintragen können
4 Kommentare
Ah … herrlich! Da schlägt mein Texttechnologen-Herz ja schneller. Mal direkt mit Kanonen auf Spatzen: Aus Ivan Illichs wirklich meisterhaften Essay „Im Weinberg des Textes“ habe ich gelernt, dass das Buch selber und auch der Buchdruck nicht die Entscheidenden Erfindungen waren. Der entscheidende Fortschritt fand im 12 Jahrhundert statt, als ich der „Wortlaut“ von der graphisch-schriftlichen Form der Buchseit getrennt hat – als das Grundprinzip eines Textes, der über mehrere Exemplare und Ausgaben eines „Buches“ hinweg stabil und identisch ist geboren wurde. Diese entscheidende Moment der westlichen Kultur ist wirklich schwer nachzuvollziehen, wenn man mit unserem heutigen, bereits abstrakten Textbegriff aufwächst. Ich kann echt nur empfehlen, das Buch zu lesen, der Essay selbst hat nur 80 Seiten. Ich halte es für den wichtigsten Text, den ich überhaupt je gelesen habe und hab es schon oft verschenkt.
Long Story short: Amazons Wechsel wird nichts entscheidendes für den kulturellen Wert ändern, denn der Textbegriff bleibt stabil, egal in welchen Häppchen wir Texte verkaufen. Mehr noch: Die Digitalisierung stärkt sogar den Text begriff, wie ich (anders als Ivan Illich) glaube, weil wir soooviele unterschiedlichen neue Formen haben Texte zu lesen (Websites, Feedreader, Ebooks), die Texte, die Wortlaute aber trotzdem stabil bleiben. Allein die Realität der Trennung von Text und Quelltext und von Quelltext und Präsentation (CSS) hat in den letzten Jahren den Textbegriff zementiert, denn – und das ist DAS Entscheidene – obwohl es einfacher den je wäre, große Texte völlig unterschiedlich zugänglich zu machen, hat sich im Digitalen eine Kultur etabliert, in der der Wortlaut eines Textes völlig stabil bleibt. Und zwar aus dem gleichen Grund, aus dem sich der Wortlaut vor über 800 Jahren von der Buchseite abgelöst hat: Weil es effektiv ist, und weil wir einen Bedarf nach stabilen Wortlauten haben. Denn dies ist die Grundlage des Wissenschaftlichen Denkens, die Grundlage des Erfolgs Europas und des Westens.
Super Hinweis, ben!! Vielen Dank. Allein weil Du mir das Buch empfiehlst (gerade antiquarisch gekauft, statt bei Scribd geladen), lohnt es sich zu bloggen (und zu kommentieren). Danke!!
Ich tue mich so schwer mit Prognosen darüber, was Bestand hat und was nicht. Mir ist nur aufgefallen, dass wir vor lauter Veränderung den Blick dafür verlieren, was wir eigentlich bewahrungswert finden – abseits unserer Gewohnheiten, die wir (als Abwehrreflex überhöhen). Spritz ist dafür ein super Beispiel – als ich das erste Mal damit gelesen habe, war ich wirklich beeindruckt. Das ist neu, das ist digital – und es ist spannend!
[…] seine Verdienste um jetzt.de für ewig wohlgesonnen sein werde – fragt drüben in seinem Blog "Was ist eigentlich ein Buch?". Die Frage stellt er, weil Amazon plant die Vergütung der Autoren, deren Werke über Kindle […]
[…] [DVG] – Was ist eigentlich ein Buch? […]