Das kann nur Print. Dieser Satz klingt bedeutsam in Anbetracht der aktuellen Titelseite der New York Times, die heute durch alle Timelines gereicht wurde und den Agenturen eigene Meldungen wert war. Und doch ist der Satz unwahr.
„We wanted to take over the entire page” erklärt Tom Bodkin, Art Director der New York Times, im Times Insider-Blog die Hintergründe für diese besondere Titelseite, die den Opfern der Corona-Pandemie gewidmet ist: „Die Zeitung hat in sechs Spalten ganzseitig die Namen von Hunderten Verstorbenen abgedruckt. In der Ausgabe stehen insgesamt 1.000 Namen aus veröffentlichten Nachrufen und jeweils ein persönlicher Satz zu den Opfern“, schreibt dpa und Willi Winkler ergänzt in der SZ: „Kein Corona-Opfer wird davon wieder lebendig, doch werden die Toten aus der nüchternen Sterbestatistik gehoben. Die Aktion, die vor einer Woche in ähnlicher Form auch die brasilianische Zeitung O Globo veranstaltet hat, ist natürlich auch ein politisches Statement gegen den amtierenden Präsidenten.“
Die Liste der Kurz-Nachrufe ist auch online aufbereitet, auch dort ist sie beeindruckend, erschütternd und traurig. Minutenlang scrollt man an 100.000 kleinen Figuren vorbei. Einige sind mit einem kurzen Satz beschrieben. Die Sätze haben die NYT-Journalist*innen aus Nachrufen, Todesanzeigen und Berichten zusammengetragen und sie geben der anonymen unvorstellbaren Zahl ein Gesicht. Das ist ein erstaunliches (daten-)journalistisches Projekt – aber es ist durch die Titelseite eben auch ein Symbol.
Womit wir beim Einstiegssatz und seinem Wahrheitsgehalt sind. Die Macht, die von einer Cover- oder Titelseite ausgeht, scheint fest mit Print verbunden zu sein. Dabei geht es bei dem, was die Amerikaner „Frontpage“ nennen, weniger um die Herstellungsform als um den Aufmerksamkeits-Fokus: „We wanted to take over the entire page” wäre durchaus ist auch im Web denkbar. Von der Werbung kann man lernen, wie Full-Page-Gestaltung aussieht. Redaktionell ist diese Form der ganzseitigen Aufmerksamkeits-Fokusierung aber noch ungewöhnlich. Das liegt vor allem daran, dass wir keine Titelseiten von Webseiten kennen. Warum eigentlich nicht?
Die Frage ist falsch gestellt. Denn in Wahrheit kann ich mir schon denken, warum Webseiten keine Cover haben: Weil es dafür eben kaum Vorbilder gibt. Mein Traum ist aber schon seit Jahren, dass auch Webangebote sich eine Verkaufs- und Aufmerksamkeits-Fläche suchen, die funktioniert wie das Magazin-Cover oder die Titelseite eines Print-Angebots. Ein Ort, an dem die relevantesten Themen eines Tages (oder jeder anderen Zeitspanne) auf neue Weise aufbereitet und präsentiert werden. Ich glaube, dass sich dieser Aufwand lohnen würde – die New York Times zeigt heute nur einen möglichen Grund.
Meine stille Hoffnung ist die taz, die angekündigt hat, ihre Print-Ausgabe in absehbarer Zeit einzustellen. Da deren Titelseite (und die dort getexteten Zeilen) aber eines der Alleinstellungs-Merkmale der taz ist, wird den Kolleg*innen sicher ein digitales Äquivalent zur Print-Seite-1 einfallen. Vielleicht ziehen dann andere nach – und am Ende posten dann alle ihre neuen digitalen Cover-Seiten auf Instagram.