Zeitungssucht rettet die Zeitung nicht

Es stimmt ja; um sich zu informieren, muss niemand mehr eine Zeitung aufschlagen. Aber das war noch nie der einzige Grund. Es ging uns Zeitungssüchtigen doch immer um mehr. Um dieses Mehr macht Sorgen. Es ist noch nicht zu erkennen, dass es in den neuen Medien gut aufgehoben ist.

Unter dem Titel Die neuen Leiden des Zeitungssüchtigen unternimmt der Freitag-Autor Michael Angele einen „Rettungsversuch“ für die Zeitung.

Vielleicht liegt es daran, dass ich diesen Text (anders als die vorangestellte Bemerkung es empfiehlt) nicht im gedruckten Freitag gelesen habe, aber ich finde: Dieser Rettungsversuch ist gescheitert. Nicht nur weil es Angele nicht gelingt, das oben angesprochene „Mehr“ zu definieren, das die Zeitungslektüre ausmacht. Auch ist mir unklar, warum zur Rettung eines Kulturgutes, der Begriff der Sucht eingeführt wird (dem ich bei aller herausragenden Sympathie für Zeitungen und bedrucktes Papier vehement widersprechen würde).

Es gibt zahlreiche sehr sehr gute Gründe für eine Zeitung, diese haben aber in erster Linie nichts mit den (Bilder-)Welten zu tun, die Angele zur Rettung des bedruckten Papiers bedient. Er schreibt:

Gibt es etwas Schöneres, als nach einer tiefen Depression wieder Lust auf eine Zeitung zu haben?

und zitiert anschließend einen „lebensbedrohlich erkrankten Freund“, der berichtet, „wie wichtig es für ihn war, sich zum Kiosk des Krankenhauses zu schleppen und eine Zeitung zu kaufen.“ Diese Metaphorik ist vermutlich bewusst gewählt, um elegant auf die Zeitungskrise zu verweisen, sie ist aber der Rettung kaum dienlich.

Denn der Wert der Zeitung bemisst sich weder in der Ausnahme-Situation der Erkrankung, noch der Sucht: Zeitungen sind deshalb besser als das Netz, weil sie einen Anfang und ein Ende haben. Sie sind wie gesagt definierte Ausschnitte aus dem Strom der Nachrichten, abgeschlossene Einheiten, die ihren Lesern das beruhigende Gefühl der Übersicht geben. Genau dieser Eindruck (und sei er in Wahrheit auch täuschend) ist es, der die Güte einer besonderen Zeitung ausmacht: Man sitzt, wie Angele es beschreibt, in einem Salon („schweren dunklen Schränke, tiefrote Teppiche und abgelebte Plüschsofas“) und genießt das Gefühl des Nicht-Verstrickt-Seins, eben das Gegenteil des Web: Im Netz ist man verstrickt, eingebunden in ein ständiges Weiter, das keinen Anfang und kein Ende kennt.

Dass die Zeitungslektüre darüberhinaus die Zugehörigkeit zu einer Gruppe andeutet und dies beim öffentlichen Lesen einer Zeitung (anders als beim iPhone/iPad/Reader) auch nach außen sichtbar ist, stimmt natürlich (und lässt sich hier ausführlich nachlesen). Gerade im Urlaub bekommt die Zugehörigkeit zu einer Gruppe vermutlich besondere Bedeutung, weshalb man dann und dort auch veraltete Exemplare kauft.

Was ich jedoch für falsch halte (neben dem ja schon fast ritualisierend Bezug aufs Rascheln) ist die Behauptung, Zeitungen seien per se kosmopolitisch („Das Kosmopolitische scheint von der Idee der Zeitung kaum trennbar zu sein.“). Das beweist allein der Blick in die sagen wir national gesinnte Presse in Deutschland; da hilft dann auch kein Rascheln.

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5 Kommentare

Ein paar spontane Gedanken dazu: Ich würde vier Eigenschaften nennen, die den Reiz einer Zeitung ausmachen.
– Kanon
Das, was Du mit „Anfang und Ende“ beschrieben hast. So wie bei Radionachrichten bekomme ich bei der Zeitung das Gefühl, die wichtigsten Informationen des von gestern zu lesen. Das können und müssen Nachrichtenseiten in ihrer kürzeren Taktung nicht liefern.

– Augenfreundlichkeit
Es ist trotz Kindle & Co noch entspannter, auf Papier zu lesen. Das ist aber a) Gewöhnungssache und b) nichts, das für immer so bleiben muss.

– Autorität
Das ist die Autorität der Zeitungsmarke und die Autorität, die ich mir durch die Lektüre einer gewissen Zeitung selbst gebe (das, was Du als „Gruppenzugehörigkeit“ beschrieben hast). Das ändert sich, weil der klassische Weg der Autoritätsbildung über das Sender-Empfänger-Prinzip nicht mehr funktioniert.

– Ritual
Wir haben das Zeitungslesen gelernt, sei es in öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf dem heimischen Sofa. Das ist nicht zu unterschätzen und gerade bei einer älter werdenden Bevölkerung durchaus ein Grund, weiter Zeitungen zu kaufen.

Ich finde gerade die vertikale Nachrichtenverteilung, also das Kanonische der Zeitung, sehr attraktiv. Allerdings stelle ich fest, dass die Schnittmenge zwischen meinem eigenen Kanon (also dem, was ich im Laufe des Tages über das Netz finde) und dem der Zeitung immer kleiner wird. Und diese individuelle Kanonisierung ist neben dem Hyperlink der entscheidende Vorteil des Netzes.

Gute Zusammenfassung, joha. Stellt sich nur eine Frage: Wenn die Schnittmenge (Punkt „Kanon“) geringer wird leidet dann darunter auch die Autorität?

@dvg – natürlich. Bereits länger, aber besonders im digitalen Zeitalter stehen die klassischen Medien vor dem Spagat, sowohl die „objektiv“ wichtigen Dinge, als auch die Themen außerhalb dieses Bereichs abzubilden, also die Veränderung des „Nutzerkanons“ mit einzuschließen.
Es gibt meiner Meinung nach zwei Medien, die mit ihrer Autorität auch online eine Art „Kanon“ erstellen können: bild.de (das werden wir in den kommenden Monaten erleben) und Spon. Ironischerweise beeinflusst dieser Spon-Kanon die klassischen Medien in Deutschland inzwischen oft mehr als die klassischen Medien Spon beeinflussen (Ausnahme: Scoops, denn da muss ein Online-Medium mitziehen).

Natürlich ist nicht das nervige Rascheln oder das eigentlich total bekloppte Format, dennoch kann ich Angele in seiner vielleicht etwas zu larmoyanten Zeitungsnostalgie durchaus folgen, habe mich selbst schon in der Botanik über eine SZ von gestern ein Loch in den Bauch gefreut.

Egal, das ‚Gefühl des Nicht-Verstrickt-Seins‘, wie Du es nennst, hieß für mich immer auch, einer Redaktion zuzutrauen, für mich ALLES zusammenzufassen und zu kommentieren, was für MICH HEUTE wichtig ist. Und das trotz der Tatsache, dass ja jetzt schon immer wieder Neues passiert; das war ja dank TV und Radio auch ohne Netz schon so. Zeitung als Dienstleister, die mir abnimmt, das Relevante rauszusuchen. Die Autorität von Redaktionen franst in meinen Augen aus, weil Zeitungen sich weniger über Inhalte als über Merchandise-Zusatzprodukte wie DVD oder Buch-Reihen definieren, mir sind bestimmte AutorInnen heute wichtiger sind als die Frage, für welche Zeitung sie schreiben.

Dass ich beim Lesen über iPhone/iPad/Reader meine Gruppenzugehörigkeit nicht mehr nach außen represente, stimmt aber nicht so ganz. Nur ist das Außen ein anderes – im besten Falle gucken doch alle meine Freunde, was für Artikel ich bei Facebook verlinke (Für einen taz-Link habe ich neulich großes Stöhnen geerntet, was aber vielleicht auch mehr über meine Freunde sagt…). Aber auch sonst – wenn ich will, dass mein Sitznachbar in der U-Bahn mich den ‚New Yorker‘-Artikel lesen sieht, finde ich auch auf dem iphone einen Weg zum Distinktionsgewinn.

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