Wie Sweet Caroline zu dem Song der Europameisterschaft wurde – woah oh oh

[white_box]

Bevor dieser Text beginnt, möchte ich mit den Worten von Jagoda Marinić darauf hinweisen, dass diese EM nicht in einem luftleeren, unpolitischen Raum stattfindet. Dass und wie sie stattfindet, ist extrem fragwürdig: „In der UEFA und in dieser EM werden die inhumanen Werte unserer Zeit, die Rücksichtslosigkeit, das Leistungsprinzip und das Gewinnstreben so schamlos und ambivalenzbefreit gefeiert wie in wenigen anderen Bereichen.“ Denn wie Werner Bartens analysiert: „Wer das kontinentale Fußballfest zugleich zum Virenfest macht, muss sich nicht wundern, wenn bald darauf die Nachspielzeit der Pandemie beginnt.“

Aber da die EM stattfindet, inspiriert sie auch Geschichten. Eine davon will ich hier kurz erzählen.

[/white_box]

Die vielleicht bekannteste Verbindung von Fußball, Memes und Musik verdanken wir den Fans des Club Brugge in Belgien. Sie bezeichnen sich selbst als Blue Army – und als ihre Mannschaft im Winter 2003 in der Champions League gegen den AC Mailand spielte, nutzte die Blue Army erstmals einen Song, der mittlerweile als offizieller Torjubel in den EM-Stadien eingespielt wird. So jedenfalls erzählt es dieser Clip, der sich mit dem Werdegang des „White Stripes“-Songs befasst, der so gut zu der Blue Army als Brügge passt: „Seven Nation Army“.

Zwei Jahre später spielte Brügge in Rom gegen eine andere italienische Mannschaft und brachte den Fans des AS Rom den Song mit, den diese als „Po po po po“-Song adaptierten und ebenfalls anstimmten. Als die italienischen Nationalmannschaft ein Jahr später (nach Siegen gegen sieben Nationen) in Berlin Weltmeister wurde, war Seven Nation Army ein bekannter Stadion-Song.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Geschichte dieses fussballerischen Ohrwurms sich tatsächlich genau so zugetragen hat – es ist in Wahrheit aber auch gar nicht so bedeutsam. Denn der Zauber dieser Ohrwürmer besteht genau darin, dass es nicht einen linearen Weg gibt, über den sich nachvollziehen lässt, wie sie entstehen. Man kann nur Tipping Points ausmachen, an denen im Rückblick erkennbar wird, wie die Verbreitung beschleunigt wurde (diese Referenz zum Corona-Virus und der verantwortungslosen Uefa, siehe Vorbemerkung, ist hier unumgänglich).

Außer Seven Nation Army gibt es aber noch jede Menge mehr Songs und Gesänge, die rund um den Fußball die memetische Kraft der Masse illustrieren. Bei der letzten Europameisterschaft brachte es der nordirische Stürmer Will Grigg zu einigem Ruhm, weil das Mashup „Will Grigg’s on Fire“ in zahlreichen Stadien angestimmt wurde. Der Stürmer von Wigan Athletic war nicht mal besonders gut, der Song aber so eingängig, dass er sogar auf Platz 7 der britischen Download-Charts landete. Die Vorlage für den Fußball-Gesang stammt übrigens von der italienischen Sänger Gala und heißt „Freed from Desire“, daran lohnt es zu erinnern, weil der Song auch in zahlreichen anderen Varianten zu hören ist – von Frida Gold, Drenchill ft. Indiiana und auch Jul.

Das alles sollte man wissen, wenn man nun den Soundtrack hört, den Fans der englischen Nationalmannschaft ihrem Team auf dem Weg ins Finale schenken. Es ist ein Song aus dem Jahr 1969, dessen Mitgröl-Potenzial DJ Ötzi schon vor Jahren in einer Cover-Version bewiesen hat: „Sweet Caroline“ von Neil Diamond wurde in Wembley gesungen als England Deutschland 2:0 besiegte – und er wird auch während des Halbfinals und des Finals dort angestimmt werden.

In dem Video ist zu hören, dass der Song über die Stadionlautsprecher lief. Diese „offizielle“ Beschallung trifft allerdings auf eine lange Vorgeschichte, die gerade Fußballfans auf der Insel mit diesem Song haben. Schon bei der EM 2016 konnte man „Sweet Caroline“ hören – damals von Fans Nordirlands angestimmt. Denn der Song liefert eine wunderbare „Woah oh oh“-Pause, die jede und jeder mitsingen kann, egal ob sie sich für das Konzept der abkippenden Raute oder den kippenden Rausch interessieren. Deshalb wird er seit Jahren bei Sport-Events gesungen – hier zum Beispiel im Mai 2019 in der Kabine von Aston Villa.

„Good times never seemed so good“ scheint die aktuelle Stimmung der britische Fans aber nicht nur in Bezug auf den Fußball einzufangen. Der Song, der den Zauber vom zum Sommer werdenden Frühling beschreibt, kann auch als Metapher auf die Bevölkerung gelesen werden, die sich über die Lockerungen nach der Pandemie freut.

In jedem Fall hat es der Gesang in die Berichterstattung ÜBER das Spiel geschafft – die Fans sangen so laut, dass sie im Interview mit Harry Kane am Spielfeldrand hörbar waren. Trainer Gareth Southgate erwähnte den Gesang in der Pressekonferenz und das memetische Moment erhielt massenmediale Aufmerksamkeit.

Es bleibt der Ohwurm – Whoa oh oh – der sich unplanbar und unkoordiniert verbreitet. Dass man viraler Verbreitung spricht, hat in diesem Sommer eine doppelte, bittere Ironie – es zeigt aber auch viel über die Welt der Internet-Memes und der Massenkultur des 21. Jahrhundert. In „Meme – Muster digitaler Kommunikation“ schreibe ich von den Ohrwürmern des Internet und wer das Buch lesen will, kann dazu – whoa oh oh – vielleicht einfach einen Song aus dem Jahr 1969 als Soundtrack wählen.